Ihr ermunternder Ton ärgerte Jack.
Verflixt, dachte er, ich glaube, sie versucht mich durch Suggestion zu kurieren.
»Ich bin völlig gesund«, sagte er irritiert.
»Dann ist es ja gut«, antwortete das Mädchen rasch und besänftigend.
Jack hatte das Ungewisse Gefühl, daß sie ihm nicht glaubte.
Er spielte noch eine Weile und eilte dann zurück zu seinem Frühstück. Während er aß, bemerkte er - und nicht zum erstenmal - den forschenden Blick eines Mannes an seinem Nebentisch. Es war ein Herr mittleren Alters mit einem kraftvollen, energischen Gesicht. Er trug einen schmalen dunklen Bart und hatte graue, durchdringende Augen. Sein sicheres Auftreten ließ darauf schließen, daß er der höheren Gesellschaftsschicht angehörte. Jack wußte, daß er Lavington hieß, und hatte vage Gerüchte über sein Ansehen als Mediziner gehört. Da Jack jedoch kein häufiger Besucher der Harley Street war, hatte ihm dieser Name wenig oder eigentlich gar nichts bedeutet.
Heute morgen spürte er die stille Beobachtung. Es erschreckte ihn ein wenig. War ihm sein Geheimnis schon deutlich ins Gesicht geschrieben, so deutlich, daß es jeder sehen konnte? Wußte dieser Mann durch seine berufliche Erfahrung, daß bei ihm irgend etwas nicht stimmte? Jack schauderte bei diesem Gedanken. War es wahr? Wurde er wirklich langsam wahnsinnig? War die ganze Sache tatsächlich eine Halluzination, oder erlaubte sich doch nur jemand einen Scherz mit ihm?
Plötzlich kam ihm eine Idee, wie er der Sache auf die Spur kommen konnte. Bisher war er auf seinen Runden immer allein gewesen. Angenommen, jemand war bei ihm? Dann mußte eines vori drei Dingen passieren: der Schrei wiederholte sich überhaupt nicht; sie könnten ihn beide hören; oder nur er allein würde ihn hören.
An diesem Abend begann er seinen Plan in die Tat umzusetzen. Lavington war der Mann, den er dazu brauchte. Eine Unterhaltung anzubahnen war nicht schwer. Es war klar, daß Jack ihn aus dem einen oder anderen Grund interessierte. So ergab es sich fast von selbst, daß sie verabredeten, am folgenden Morgen vor dem Frühstück zusammen eine Partie Golf zu spielen.
Kurz vor sieben machten sie sich auf den Weg. Es war ein herrlicher Tag, strahlend und wolkenlos, aber noch nicht zu warm. Der Doktor spielte gut, Jack jämmerlich. Er dachte nur an den Schrei. Immer wieder schielte er verstohlen auf seine Armbanduhr. Sie erreichten die siebte Markierung -zwischen dieser und dem nächsten Loch lag das Landhaus -ungefähr um zwanzig Minuten nach sieben. Das Mädchen stand, wie immer, im Garten, als sie vorbeikamen. Sie sah nicht auf.
Die beiden Golfbälle lagen im Gras, Jacks in der Nähe des Loches, der des Doktor ein wenig weiter weg.
»Das ist meiner«, sagte Lavington. »Ich glaube, ich muß etwas kräftiger zuschlagen.«
Er bückte sich und schätzte die Strecke ab. Jack starrte auf die Uhr. Es war genau fünfundzwanzig Minuten nach sieben.
Der Ball huschte über das Gras, stoppte vor dem Loch, zögerte und fiel hinein.
»Ein guter Schlag«, lobte Jack. Mit einem Seufzer der Erleichterung schob er seine Uhr am Arm hinauf. Es war nichts geschehen. Der Zauber war gebrochen.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, eine Minute zu warten«, sagte er, »würde ich mir gern eine Pfeife stopfen.«
Sie verweilten kurze Zeit bei der achten Markierung.
Jack füllte seine Pfeife und zündete sie mit zitternden Händen an. Eine große Last schien ihm von der Seele gefallen zu sein.
»Gott, was für ein schöner Tag!« rief er aus und genoß die Aussicht. »Machen Sie weiter, Lavington, Sie sind dran.«
Und dann hörte er es. Gerade in dem Moment, als der Doktor zuschlug. Eine Frauenstimme, schrill und gequält.
»Mord! Hilfe! Mord!«
Die Pfeife fiel Jack aus der Hand. Er schnellte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Dann starrte er atemlos auf seinen Begleiter.
Lavington beschattete seine Augen mit der Hand und blickte auf den Rasen.
»Ein bißchen kurz«, sagte er, »aber ich glaube, er ist doch noch hineingerutscht.«
Er hatte nichts gehört!
Die Welt schien sich verkehrt um Jack zu drehen. Er wankte.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem kurzgeschnittenen Rasen, und Lavington beugte sich über ihn.
»So, schön ruhig bleiben, es ist ja alles gut!«
»Was habe ich getan?«
»Sie wurden ohnmächtig, junger Mann. Zumindest sah es so aus.«
»Mein Gott!« stöhnte Jack.
»Was ist los? Stimmt etwas nicht mit Ihnen?«
»Ich erzähle es Ihnen gleich, aber zuerst möchte ich Sie etwas fragen.«
Der Arzt zündete seine Pfeife an und setzte sich auf eine Bank.
»Fragen Sie alles, was Sie wollen«, sagte er tröstend.
»Sie haben mich in den letzten paar Tagen beobachtet. Warum?«
Lavington zwinkerte mit den Augen und antwortete: »Das ist eine ziemlich direkte Frage. Ich darf Sie doch anschauen.«
»Halten Sie mich nicht hin. Ich meine es ernst. Warum? Ich habe einen triftigen Grund für diese Frage.«
Lavingtons Gesicht wurde ernst.
»Ich will Ihnen ganz ehrlich antworten. Ich entdeckte an Ihnen alle Anzeichen einer akuten Belastung, unter der Sie zu leiden haben. Selbstverständlich interessierte es mich herauszufinden, wo der Grund hierfür lag.«
»Das kann ich Ihnen leicht erklären«, sagte Jack bitter. »Ich bin auf dem Weg, irrsinnig zu werden.«
Er hielt dramatisch inne, aber da sich Lavington von seiner Enthüllung weniger beeindruckt zeigte, als er es erwartet hatte, wiederholte er:
»Ich sage Ihnen, ich werde wahnsinnig!«
»Seltsam«, murmelte Lavington. »Wirklich, sehr seltsam.«
Jack fühlte etwas wie Ärger in sich hochsteigen.
»Ist das alles, was Ihnen einfällt? Ärzte sind so verdammt gefühllos!«
»Bitte, bitte, mein junger Freund, Sie irren sich. Zunächst einmal praktiziere ich nicht Medizin, obgleich ich mein Examen gemacht habe. Genau gesagt, ich bin kein Arzt, das heißt, kein Arzt für den Körper.«
Jack betrachtete ihn neugierig.
»Für den Geist?«
»Ja, ungefähr. Aber genauer gesagt, ich nenne mich einen Doktor der Seele.«
»Aha!«
»Ihrem geringschätzigen Ton entnehme ich, daß Sie damit nicht viel anzufangen wissen. Aber man muß für die Seele doch eine Bezeichnung finden, nicht wahr? Sehen Sie, junger Mann, Seele, das ist nicht nur eine von Geistlichen erfundene religiöse Bezeichnung. Wir nennen es den Geist oder das Unbewußte. Nehmen Sie jeden anderen Ausdruck, der Ihnen besser gefällt. Sie haben sich vorhin an meinen Worten gestoßen, aber ich kann Ihnen versichern, daß es mich wirklich sehr seltsam berührt hat, daß ein so ausgeglichener und normaler Mann wie Sie von sich glaubt, er werde wahnsinnig werden.«
»Ich bin schon wahnsinnig. Vollkommen verrückt, jawohl.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich das sage, aber ich glaube Ihnen nicht.«
»Ich habe Wahnvorstellungen.«
»Nach dem Abendessen?«
»Nein, morgens.«
»Das gibt es nicht«, sagte der Arzt und zündete seine Pfeife wieder an.
»Ich sage Ihnen, ich höre Dinge, die sonst niemand hört.«
»Von tausend Menschen kann einer die Monde des Jupiter sehen. Wenn die anderen neunhundertneunundneunzig sie nicht sehen können, so ist das kein Grund, an ihrer Existenz zu zweifeln, und ganz gewiß kein Grund, den tausendsten Menschen einen Irren zu nennen.«
»Die Jupitermonde sind eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache.«
»Es ist ganz leicht möglich, daß Wahnvorstellungen von heute schon morgen als wissenschaftliche Tatsachen zu beweisen sind.«
Lavingtons bestimmte Art machte auf Jack Eindruck. Er fühlte sich gleichermaßen getröstet und aufgemuntert. Der Arzt blickte ihn eine Weile aufmerksam an. Dann nickte er.
»So ist's schon besser«, meinte er. »Das Schlimme mit euch jungen Leuten ist, daß ihr so überzeugt seid, außerhalb eurer eigenen Philosophie könne nichts existieren. Und wenn irgend etwas geschieht, das nicht in eure Anschauung paßt, gebt ihr einfach auf. Erzählen Sie mir, aus welchem Grund Sie glauben, Sie werden verrückt. Dann werden wir weitersehen.«