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Am folgenden Tage kehrte Lou mit einer anderen Neuigkeit zurück. »Stellt euch bloß vor«, sagte sie. »Heute morgen wurde ich gebeten, den Neffen anzurufen.«

»Miss Greenshaws Neffen?«

»Ja. Er ist anscheinend Schauspieler und wirkt bei einer Theatergesellschaft mit, die Sommervorstellungen in Boreham on Sea gibt. Ich rief das Theater an und ließ ihm bestellen, daß er morgen zum Lunch kommen möchte. Es war ziemlich spaßig. Die Alte wollte nicht, daß die Haushälterin etwas davon erfuhr. Ich glaube, Mrs. Cresswell hat etwas getan, worüber sie sich geärgert hat.«

»Morgen die nächste Fortsetzung dieses spannenden Romans«, murmelte Raymond.

»Ja, es ist genau wie in einem Zeitungsroman, nicht wahr? Versöhnung mit dem Neffen - Blut ist dicker als Wasser -ein neues Testament - das alte, zerstört.«

»Tante Jane, du siehst ja so ernst aus.«

»Meinst du, liebes Kind? Hast du noch etwas von dem Polizisten gehört?«

»Von einem Polizisten weiß ich nichts.«

»Jene Äußerung, die Miss Greenshaw machte, liebes Kind, muß irgendeine Bedeutung gehabt haben.«

Lou kam am nächsten Tag in heiterer Verfassung an ihrer Arbeitsstätte an. Sie schritt durch die offene Haustür - die Türen und Fenster des Hauses standen immer offen. Angst vor Einbrechern schien Miss Greenshaw nicht zu haben, und da die meisten Sachen im Hause mehrere Tonnen wogen und unverkäuflich waren, schien diese Einstellung durchaus berechtigt zu sein.

In der Einfahrt war Lou dem jungen Alfred begegnet. Als sie ihn zuerst erblickte, lehnte er an einem Baum und rauchte eine Zigarette. Doch sobald er sie sah, hatte er einen Besen ergriffen und eifrig Blätter zusammengekehrt. Ein fauler junger Mann, dachte sie, aber gut aussehend. Seine Züge erinnerten sie an jemanden. Als sie auf dem Wege nach oben zur Bibliothek durch die Halle ging, fiel ihr Blick auf das große Bild von Nathaniel Greenshaw, das über dem Kaminsims hing und ihn auf dem Gipfel viktorianischen Wohlstandes darstellte: zurückgelehnt in einem tiefen Sessel, die Hände auf der goldenen Uhrkette ruhend, die sich quer über seinen geräumigen Bauch erstreckte. Als ihr Blick hinauf zum Gesicht mit seinen feisten Wangen, den buschigen Augenbrauen und dem schwungvollen Schnurrbart wanderte, kam ihr der Gedanke, daß Nathaniel Greenshaw früher einmal ein hübscher Mann war. Vielleicht hatte er ein wenig wie Alfred ausgesehen ...

Sie ging in die Bibliothek und schloß die Tür hinter sich. Dann nahm sie die Hülle von der Schreibmaschine und holte die Tagebücher aus einer der Seitenschubladen des Schreibtisches. Durch das geöffnete Fenster sah sie Miss Greenshaw, die sich in einem gelb und braun geblümten Kattunkleid über das Steinbeet beugte und eifrig Unkraut zupfte. Während der letzten beiden Tage hatte es viel geregnet, und da war das Unkraut in die Höhe geschossen.

Lou, die in der Stadt aufgewachsen war, beschloß, daß ihr Garten - falls sie je einen haben sollte - niemals ein Steinbeet enthalten würde, das mit der Hand gejätet werden mußte. Dann machte sie sich an ihre Arbeit.

Als Mrs. Cresswell um halb zwölf mit dem Kaffee in die Bibliothek kam, war sie offenbar in sehr schlechter Laune. Sie knallte das Tablett auf den Tisch und bemerkte zu der Welt im allgemeinen:

»Gäste zum Lunch - und nichts im Hause! Ich möchte bloß wissen, wie ich das schaffen soll. Und Alfred nirgends zu sehen!«

»Er fegte Laub in der Einfahrt, als ich ankam«, wagte Lou zu bemerken.

»Das kann ich mir denken. Eine schöne, bequeme Arbeit.«

Mrs. Cresswell rauschte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Lou schmunzelte vor sich hin und fragte sich im stillen, wie der »Neffe« wohl sein mochte.

Sie trank ihren Kaffee aus und stürzte sich wieder auf ihre Arbeit, die sie so fesselte, daß die Zeit rasch verging. Als Nathaniel Greenshaw ein Tagebuch zu führen begann, hatte er sich durchaus keine Zurückhaltung auferlegt. Während Lou eine Stelle tippte, die sich auf die persönlichen Reize einer Bardame in der benachbarten Stadt bezog, kam sie zu der Ansicht, daß noch sehr viel Redaktionsarbeit geleistet werden müsse.

Aus diesen Gedankengängen wurde sie plötzlich durch einen Schrei vom Garten her aufgeschreckt. Sie sprang auf und rannte ans offene Fenster. Miss Greenshaw kam gerade schwankend vom Steinbeet auf das Haus zu. Sie hatte die Hände an die Brust gepreßt, und zwischen ihnen ragte ein gefiederter Schaft hervor, den Lou voller Bestürzung als den Schaft eines Pfeiles erkannte.

Miss Greenshaws Kopf, auf dem der mitgenommene Strohhut thronte, sank auf die Brust herab. Mit versagender Stimme rief sie zu Lous Fenster empor:

». getroffen . er hat auf mich geschossen . mit einem Pfeil ... holen Sie Hilfe ...«

Lou stürzte zur Tür. Sie drehte den Knopf, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Nach einigen vergeblichen Bemühungen merkte sie, daß sie eingeschlossen war. Sie lief wieder ans Fenster zurück.

»Ich bin eingeschlossen!«

Miss Greenshaw, die Lou den Rücken zugewandt hatte, stand ein wenig schwankend auf den Füßen und rief zu dem etwas weiter gelegenen Fenster der Haushälterin hinauf:

»Rufen Sie die Polizei . telefonieren Sie .«

Wie eine Trunkene von Seite zu Seite schaukelnd, verschwand sie dann aus Lous Gesichtskreis durch die Glastür, die in den Salon führte. Einen Augenblick später vernahm Lou das Krachen von Geschirr, einen schweren Fall, dann war es still. In ihrer Phantasie malte sie sich die Szene aus. Miss Greenshaw mußte blindlings gegen einen kleinen Tisch mit einem Teeservice aus Sevresporzellan getaumelt und dann gefallen sein.

Verzweifelt hämmerte Lou an die Tür und rief aus Leibeskräften. Außen am Fenster gab es weder Ranken noch

Abflußrohre, an denen sie hatte hinunterklettern können. Nachdem sie lange vergeblich an die Tür gehämmert hatte, kehrte sie zum Fenster zurück und sah, wie der Kopf der Haushälterin am Fenster ihres Wohnzimmers erschien.

»Kommen Sie doch bitte, Mrs. Oxley, und lassen Sie mich heraus. Ich bin eingeschlossen.«

»Ich auch.«

»Du liebe Güte, ist das nicht schrecklich? Ich habe die Polizei angerufen. In diesem Zimmer ist nämlich ein Telefonanschluß. Aber ich kann ganz und gar nicht verstehen, Mrs. Oxley, warum wir eingeschlossen sind. Ich habe überhaupt nicht gehört, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Sie etwa?«

»Nein. Ich habe auch nichts gehört. Lieber Himmel, was sollen wir bloß machen? Vielleicht könnte Alfred uns hören.« Lou rief aus voller Kehle: »Alfred, Alfred!«

»Ist wahrscheinlich zum Essen gegangen. Wie spät ist es denn?«

Lou blickte auf ihre Uhr.

»Fünfundzwanzig nach zwölf.«

»Er soll eigentlich erst um halb eins gehen. Aber sobald er kann, schleicht er sich früher davon.«

»Glauben Sie - glauben Sie ...«

Lou wollte fragen: Glauben Sie, daß sie tot ist? Aber die Worte blieben ihr im Halse stecken.

Es blieb nichts anderes übrig, als zu warten, und sie setzte sich auf die Fensterbank. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die behelmte Gestalt eines Schutzmannes um die Ecke des Hauses bog. Lou lehnte sich aus dem Fenster, und er blickte zu ihr auf, wobei er die Augen mit der Hand beschattete. Als er sprach, klang seine Stimme sehr vorwurfsvoll.

»Was geht denn hier vor sich?« fragte er.

Von ihren verschiedenen Fenstern aus überschütteten ihn Lou und Mrs. Cresswell mit einer Flut aufgeregter Informationen.

Der Schutzmann holte ein Notizbuch und einen Bleistift hervor.

»Und Sie, meine Damen, rannten also nach oben und schlossen sich ein? Wollen Sie mir bitte Ihre Namen nennen?«

»Nein. Jemand anders hat uns eingeschlossen. Kommen Sie endlich, und lassen Sie uns hinaus.«