Doc schüttelte den Kopf. »Nein, im Augenblick liegt er in eine alte Plane eingerollt hinten in meinem Wagen. Ich werde ihn begraben, wenn ich wieder zu Hause bin.« Er zündete sich eine Pfeife an. »Tut mir wirklich leid um den Hund, aber ich konnte ihm auch nicht mehr ausweichen. Er tauchte plötzlich auf und rannte mir genau vor den Wagen. Ich konnte nicht einmal mehr auf die Bremse treten, bevor es ihn erwischte.«
»Merkwürdig«, meinte der Sheriff. »Buck hatte sonst immer schrecklich Angst vor Autos und rannte fort, wenn er eins kommen hörte.«
Doc starrte ihn überrascht an. »Dann muß er wirklich verrückt gewesen sein, als er blindlings auf die Straße rannte! Sind hier in der Gegend in letzter Zeit Fälle von Tollwut aufgetreten, Sheriff?«
»Schon seit Jahren nicht mehr. Ich kann mich an keinen erinnern.« Der Sheriff schien das Gesprächsthema nicht besonders interessant zu finden.
Doc betrachtete das Gesicht seines Gegenübers eingehend und versuchte herauszubekommen, ob der Sheriff ein Trottel war oder nicht. Vielleicht doch nicht, entschied er schließlich; vermutlich war der Mann durchschnittlich intelligent, aber völlig phantasielos. Er brachte es jedenfalls fertig, das seltsame Benehmen der Maus und des Hundes mit einer Handbewegung als nebensächlich abzutun und sich nur auf den Jungen zu beschränken. Tommy hatte sich seltsam aufgeführt, das stimmte, aber andererseits war er übergeschnappt, und Verrückte neigen eben zu Verrücktheiten. So ähnlich lauteten die Schlußfolgerungen des Sheriffs – und in dieser Beziehung stimmte er mit allen anderen überein, die als Zuhörer oder Zeugen an der heutigen Verhandlung teilgenommen hatten.
Was hatte er den Sheriff noch fragen wollen? Ach ja ... »Äh – Sheriff, ich bin zu spät gekommen, um das Gutachten des Coroners zu hören. Ist eigentlich eine Autopsie vorgenommen worden?«
»Eine Autopsie? Nein, wozu denn? Schließlich stand doch fest, daß der Junge Selbstmord begangen hatte, indem er sich die Pulsadern aufschnitt. Sonst wies sein Körper keinerlei Verletzungen auf, wenn man von ein paar Kratzern absieht, die vermutlich von Brombeerranken oder Ästen stammen.«
Doc öffnete den Mund und schloß ihn langsam wieder.
Der Sheriff nahm einen Schluck Bier. »Hören Sie, ich habe mir gerade überlegt, wo Sie wohl an der Straße wohnen könnten. In dem alleinstehenden Haus am Ende der Straße – ungefähr fünfzehn Kilometer von hier?«
»Stimmt«, antwortete Doc. »Auf der ehemaligen Burton-Farm, die allerdings jetzt völlig verwildert ist. Einer meiner Freunde in Boston hat sie gekauft, weil er seinen Urlaub auf dem Land verbringen möchte. Aber dieses Jahr kann er erst im Herbst weg, deshalb hat er mir das Haus für meinen Urlaub zur Verfügung gestellt.«
»Ja, jetzt erinnere ich mich. Ein Mr. Hastings, glaube ich. Letzten Sommer habe ich ihn öfters hier gesehen. Ist Ihre Frau auch hier, oder hausen Sie ganz allein dort draußen?«
»Allein. Ich bin Junggeselle. Es ist schön, wenn man einmal aus dem ganzen Trubel herauskommt. Wenn man wie ich unterrichtet ...«
»Was unterrichten Sie, Mr. Staunton?«
»Nennen Sie mich doch einfach Doc, Sheriff. Ich bin Professor für Physik am Massachusetts Institute for Technology. Spezialgebiet Elektronik. Unter anderem auch für Satelliten. Die erste Hälfte meines Urlaubs habe ich bereits für einige wichtige Arbeiten verwendet, aber jetzt will ich mich nur noch erholen.«
»Sie haben wirklich mit Raketen zu tun?« Die Stimme des Sheriffs klang plötzlich respektvoll.
»Nicht direkt Raketen, sondern mehr die Ausrüstung der Satelliten mit Meßgeräten. Aber im Augenblick interessiert mich das Angeln mehr. Ungefähr einen Kilometer von dem Haus entfernt fließt ein Bach, in dem ...«
»Ich weiß, ich habe auch schon dort draußen gewohnt«, warf der Sheriff eifrig ein. »Aber Sie und Ihr Freund Hastings sollten einmal kommen, wenn die Jagdsaison beginnt. In den Wäldern im Norden gibt es eine Menge Rotwild.«
»Leider bin ich kein großer Jäger vor dem Herrn, Sheriff. Ich habe zwar eine Schrotflinte und eine Pistole mitgenommen, aber nur für Schießübungen auf Scheiben. Angeblich soll es auf der alten Farm auch Ratten geben, obwohl ich noch keine gesehen habe. Noch ein Bier?«
»Okay«, meinte der Sheriff und hielt nochmals zwei Finger in die Höhe.
»Sind eigentlich hier in letzter Zeit noch andere merkwürdige Todesfälle berichtet worden, Sheriff?« fragte Doc Staunton beiläufig.
Der Sheriff starrte ihn überrascht an. »Ich kann mir nicht recht vorstellen, was Sie unter ›merkwürdigen Todesfällen‹ verstehen«, sagte er dann langsam. »Ein paar Leute sind ermordet worden, aber das waren alles Raubmorde, wie sie überall vorkommen.«
»Keine anderen Fälle, wo jemand plötzlich verrückt wurde und sich – oder andere – umbrachte?«
»Hmmm – ich bin jetzt sechs Jahre Sheriff, aber in dieser Zeit ist nichts in dieser Art passiert. Aber was wäre daran merkwürdig? Schließlich ist es doch nicht völlig ungewöhnlich, daß ein Mensch überschnappt?«
»Das stimmt, aber Anfälle, die dazu führen, sehen meistens etwas anders aus. Und Tommy Hoffmann – nun ...«
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß der Junge nicht Selbstmord begangen hat?«
»Selbstverständlich nicht. Ich frage mich nur, welche Art von Psychose ihn so unvermutet und rasch dazu gebracht haben kann. Eigentlich hätte er doch glücklich und zufrieden sein müssen ... Reden wir nicht mehr darüber, Sheriff. Sie haben also schon einmal in dem Bach hinter der Farm geangelt – welche Art von Fliegen nehmen Sie für Forellen?«
Kurze Zeit später stand der Sheriff auf und entschuldigte sich, weil er wieder nach Wilcox zurückfahren mußte, wo er noch einiges zu erledigen hatte. Doc bestellte sich noch ein Bier, stopfte sich eine Pfeife – die allerdings immer wieder ausging, weil er daran zu ziehen vergaß – und dachte nach. Ging er wirklich zu weit, wenn er annahm, daß die drei Todesfälle – die Feldmaus, der Junge und der Hund – auf fast unglaubliche Weise miteinander in Zusammenhang standen? Der Sheriff schien diese Auffassung nicht zu teilen, aber ...
Oder machte er nur viel Lärm um Nichts? Eine Feldmaus hatte sich seltsam benommen. Zuerst hatte sie sich aufgerichtet, als wolle sie dadurch erreichen, daß der Junge und das Mädchen nicht weitergingen. Dann hatte sie sich von dem Mädchen aufheben lassen, sie aber anschließend zu beißen versucht. Schließlich hatte sie den Jungen angefallen, was eigentlich auf Selbstmord hinauslief.
Dann Tommy Hoffmann. Wieder ein plötzlicher Anfall von Geistesgestörtheit, der mit Selbstmord endete. Doc wußte, daß es Menschen gab, die plötzlich verrückt wurden und in diesem Zustand selbst ihrem Leben ein Ende setzten. Aber er hatte einiges über diese Fälle gelesen und erinnerte sich jetzt daran, daß sämtliche Kapazitäten in einem Punkt übereinstimmten – Anfälle dieser Art kamen nie unvermutet und ohne einen nachträglich feststellbaren Anlaß.
Als nächstes der Hund, durch den Doc auf die Angelegenheit aufmerksam gemacht worden war. Selbstverständlich war es durchaus möglich, daß er tollwütig gewesen war – aber wenn nicht, dann hatte er tatsächlich Selbstmord begangen, indem er vor das Auto lief. Der Sheriff hatte erzählt, wie sehr Buck sich vor Autos fürchtete, und diese Eigenschaft ließ seinen Tod nicht gerade natürlicher erscheinen.
Aber Tiere – wenn man von Lemmingen absieht – begehen nicht Selbstmord.
Doc stand plötzlich auf, zahlte sein Bier und ging zu seinem Wagen hinaus. In Green Bay mußte es eine Untersuchungsstelle geben, die feststellen konnte, ob der Hund die Tollwut gehabt hatte oder nicht. Bis nach Green Bay waren es nur siebzig Kilometer, so daß er genügend Zeit hatte. Außerdem war er die ganze Woche nicht über Bartlesville hinausgekommen, so daß ein Abend in Green Bay eine willkommene Abwechslung darstellen würde. Er konnte in einem Restaurant zu Abend essen und vielleicht sogar ins Kino gehen, falls ein guter Film lief.