Auf seiner Uhr war es bereits kurz vor Mitternacht, als er aus Green Bay zurückfuhr. Das Haus, in dem er wohnte, hatte früher einem Farmer gehört, der es großzügig eingerichtet hatte. Im Erdgeschoß befanden sich eine riesige Küche, ein geräumiges Wohnzimmer und ein kleinerer Raum, in dem Staunton seine Jagdwaffen und Angelruten aufbewahrte. Eine Treppe höher lagen drei Schlafzimmer nebeneinander, von denen allerdings nur eins möbliert war, und ein altmodisches Bad. Im Keller stand ein kleiner Generator, der von einem Benzinmotor angetrieben wurde, und dieser Motor betrieb auch die Pumpe, die das Wasser aus dem Brunnen in einen Tank auf dem Dach förderte. Das Haus hatte keinen Telefonanschluß, aber Doc war im Grunde genommen sogar froh darüber. Der zu der Farm gehörige Grund und Boden war in den letzten zwanzig Jahren aus unbekannten Gründen nicht mehr bebaut worden und war jetzt völlig mit Unkraut überwuchert.
Bis heute abend hatte er sich dort ausgesprochen wohl gefühlt.
Doc holte sich eine Dose Bier aus dem Eisschrank und ließ sich in einem Sessel nieder, um einen der Kriminalromane zu lesen, die er in Green Bay gekauft hatte. Aber er brachte einfach nicht genügend Interesse dafür auf, denn er spürte ein gewisses Unbehagen. Zum erstenmal empfand er die Einsamkeit als bedrückend. Er unterdrückte den Wunsch, die Vorhänge zuzuziehen, so daß er nicht mehr sichtbar war, falls etwas oder jemand ihn von draußen beobachtete.
Aber warum sollte jemand sich die Mühe machen, bis zu diesem Haus hinauszufahren, um ihn beobachten zu können? Und weshalb hatte er an etwas gedacht? Etwas, das durch die Fenster in das Zimmer hineinsah, konnte bestenfalls ein Tier sein – und warum sollte es ihn beunruhigen, wie viele Tiere ihn beobachteten? Er schalt sich selbst einen hysterischen alten Trottel, machte eine zweite Dose Bier auf und vertiefte sich wieder in seinen Kriminalroman.
Er hatte bereits zwanzig Seiten davon gelesen, aber trotzdem konnte er sich an nichts mehr erinnern, was auf den ersten Seiten gestanden hatte. Er begann wieder von vorn. Dabei handelte es sich um einen ausgezeichneten Kriminalroman – mit einem Mord auf der ersten Seite. Aber trotzdem stellte Staunton fest, daß seine Gedanken immer wieder zu Tommy Hoffmann und seinem unerwarteten, überraschenden Ende abschweiften ... Der Junge war nackt durch den Wald geirrt, hatte sich in einer Höhle versteckt, bis sein Vater und der Vater seiner Freundin zusammen mit dem Hund nach ihm suchten, und war dann zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt, wo er ein altes, rostiges Messer aufnahm und sich damit die Pulsadern durchschnitt.
Das Buch war jetzt auf Seite fünfzehn offen, aber Doc Staunton konnte sich wieder nicht mehr daran erinnern, was er eigentlich gelesen hatte. Er warf den Kriminalroman wütend zu Boden und lehnte sich in den Sessel zurück, um nachzudenken.
Schließlich entschied er sich dafür, möglichst überhaupt nicht mehr an den Fall Hoffmann zu denken, bis er morgen nachmittag in Green Bay angerufen hatte, um das Ergebnis von Bucks Untersuchung auf Tollwut zu erfahren. Falls der Hund tollwütig gewesen war, was einen der drei Todesfälle erklären würde, wollte er sich die Angelegenheit endgültig aus dem Kopf schlagen – und die noch verbleibenden fünf Urlaubswochen genießen, ohne etwas lösen zu wollen, was vielleicht nur ein Zufall und keineswegs ein geheimnisvoller Vorfall war ... Aber wenn Buck nicht die Tollwut gehabt hatte ...
Er trank noch eine Dose Bier, um müde zu werden, und ging zu Bett. Wenige Minuten später war er eingeschlafen.
7
Der Parasit befand sich noch immer in dem hohlen Baumstamm. Er hatte sich noch nicht wieder an einen anderen Ort bringen lassen, seitdem der Hund ihn am Tag zuvor dort abgelegt hatte, bevor er sich von dem Auto hatte überfahren lassen.
Seither hatte er nur von einem Wirt Besitz ergriffen, um selbst einige Erkundungen anzustellen. Er wollte sich vor allem einen besseren Überblick über die Umgebung verschaffen, denn der in Tommys Gedächtnis genügte für seine Zwecke nicht. Am besten wäre ein Blick aus der Vogelschau. Deshalb hatte er kurz vor Morgengrauen von einer Krähe Besitz ergriffen, die in dem Baum über ihm schlief.
Zunächst stellte sich allerdings heraus, daß der Vogel nachts fast blind war, so daß der Parasit bis nach Sonnenaufgang warten mußte, bevor er die Krähe losfliegen lassen konnte. Zunächst entlang der Straße, wobei er das Gesehene mit dem in Verbindung brachte, was er aus Tommys Gedächtnis wußte. Am Ende der Straße stand ein älteres Haus, das nach Tommys Meinung leer stand – aber er hatte sich geirrt, denn im Hof parkte ein Kombiwagen.
Dann war die Krähe in Richtung Bartlesville geflogen, bis der Parasit ihr am Rande der Stadt eine kurze Pause gönnte. Als der Vogel sich ausgeruht hatte, dirigierte er ihn über die Stadt und sah nun mit ihren Augen, was er bereits von Tommy wußte.
Ein kleiner Laden, in dem Radio- und Fernsehgeräte repariert wurden, interessierte ihn am meisten. Der Besitzer mußte jedenfalls einige Grundkenntnisse auf dem Gebiet der Elektronik besitzen, was ihn als Wirt geeignet erscheinen ließ – wenigstens für kurze Zeit. Aber Tommy hatte weder den Namen des Mannes gekannt noch gewußt, wo er wohnte, sondern nur, daß er nicht im Geschäft schlief. Der Parasit rechnete damit, daß er lange brauchen würde, um sich darüber Klarheit zu verschaffen.
Als er genügend gesehen hatte, brachte er die Krähe dazu, sich aus großer Höhe wie ein Stein auf die Straße fallen zu lassen, denn er sah es als Zeitverschwendung an, sie erst in den Wald zurückfliegen zu lassen. Und Sekunden später befand er sich wieder in einem eigenen Körper in dem hohlen Baumstamm.
Dort war er seitdem geblieben, aber er war nicht müßig gewesen. Sein zweites Versteck lag durch einen glücklichen Zufall außerordentlich günstig, denn in unmittelbarer Nähe verliefen einige Wildwechsel. Dadurch konnte er verschiedene wildlebende Tierarten untersuchen, als sie nichtsahnend an ihm vorbeiliefen. Dazu gehörten nicht nur eine Wildkatze und mehrere Stinktiere, sondern auch zwei Hirsche und ein Bär. Auch einige Vögel, einschließlich der zwei Arten, die er bereits kannte – eine Eule und ein Habicht, die beide groß genug waren, um ihn im Notfall transportieren zu können. Von jetzt ab hatte der Parasit also bei Tag und Nacht die Möglichkeit, sich durch die Luft befördern zu lassen. Nun konnte er von jedem dieser Tiere Besitz ergreifen, falls ein Exemplar der gewünschten Gattung im Umkreis von fünfzehn Kilometern schlief.
So war die Zeit bis zum Nachmittag vergangen, als ein Ereignis eintrat, das ihm zeigte, daß er bald wieder die Initiative ergreifen mußte.
Er begann hungrig zu werden. Genauer gesagt, fühlte er das Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme, da er nicht im eigentlichen Sinn aß. Seit seiner Verbannung aus seiner Heimat war die Zeit so rasch verstrichen, daß er sich nicht mehr bewußt war, wie lange es schon her war, daß er zuletzt Nahrung aufgenommen hatte. Nachdem er das nur in Abständen von mehreren Monaten tun mußte, hatte er angenommen, daß er genügend Zeit haben würde, sich mit den Bedingungen auf der Erde vertraut zu machen, bevor er sich mit diesem Problem beschäftigen mußte. Offenbar hatte er die zur Verfügung stehende Zeitspanne jedoch überschätzt.
Seine Rasse hatte Jahrmillionen lang im Wasser gelebt und sich dadurch ernährt, daß sie die dort vorkommenden Mikroorganismen absorbierten; deshalb hatten sich auch nie Verdauungsorgane bei ihnen entwickelt. Als sie im Lauf der natürlichen Evolution Schutzpanzer erhielten, waren diese Panzer trotz zunehmender Stärke stets durchlässig genug gewesen, um weiterhin diese Art von Nahrungsaufnahme zuzulassen.