Siegfried Gross, der vor wenigen Wochen fünfundsechzig geworden war, führte ein einsames Leben. Er verstand sich einigermaßen mit seinen Nachbarn und etlichen Geschäftsleuten in Bartlesville, hatte aber keine richtigen Freunde. Er hatte niemand gern – und niemand hatte ihn gern, nicht einmal seine Frau. Sie waren nur deshalb zusammen geblieben, weil sie aufeinander angewiesen waren. Elsa hatte keine Verwandten mehr, zu denen sie ziehen konnte, und wußte nicht, wie sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen sollte; Siegfried brauchte sie als Haushälterin und überließ ihr das Versorgen der Tiere auf der Farm.
Sie hatten zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, aber Siegfried hatte sich mit beiden zerstritten, als sie in die Stadt ziehen wollten, um dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Elsa hatte noch einige Briefe von ihnen erhalten, aber Siegfried hatte ihr zu antworten verboten, so daß sie jetzt nicht einmal mehr wußten, wo ihre Kinder lebten.
Er selbst hatte nicht mehr allzuviel vom Leben zu erwarten, denn seit einigen Jahren litt er an einer Arthritis, die sich fortwährend verschlimmerte. Schon jetzt tat ihm jeder Handgriff weh, und er wußte, daß er in wenigen Jahren arbeitsunfähig sein würde, so daß er die Farm verkaufen mußte. Er hatte keinerlei Hypotheken darauf, deshalb würde er vielleicht genug bekommen, um sich und Elsa damit in ein Altersheim einzukaufen, in dem sie ihr Leben beschließen konnten. Mehr durfte er nicht erhoffen, nachdem die Ärzte ihn nicht zu heilen vermocht hatten – das und die kaum zu ertragenden Schmerzen, die ihn zum Krüppel machen würden, falls er lange genug lebte.
Der Parasit nahm diese Einzelheiten nur deshalb in sich auf, weil er genügend Zeit dazu hatte, während sein Körper Nahrung aufnahm, und weil er sich für alles interessierte, was mit Menschen zusammenhing um daraus mehr über sie zu lernen. Angesichts der Verzweiflung seines Wirts empfand er keinerlei Mitgefühl; er beurteilte seine Wirte nur nach dem Gesichtspunkt ihrer Verwendbarkeit. Und er hatte bereits entschieden, daß Siegfried Gross für keine weitere Aufgabe mehr zu gebrauchen war.
Gross führte ein Einsiedlerleben; er unterhielt keine Verbindungen zu anderen Menschen und konnte sich bestimmt keine der Informationen verschaffen, die der Parasit benötigte, ohne dabei unnötiges Aufsehen zu erregen. Er hatte kein Telefon, schrieb keine Briefe und erhielt nur Geschäftsdrucksachen. Einmal pro Woche fuhr er nach Bartlesville, um dort seine Einkäufe zu erledigen. Dazu benutzte er Pferd und Wagen, denn er hatte nie ein Auto besessen – oder eines besitzen wollen. Niemals öfter als einmal in der Woche, falls er nicht Gemüse auf dem Markt verkaufen wollte, womit er nicht bis Samstag warten konnte. Er bevorzugte bestimmte Läden und hielt sich selbst dort nie länger als unbedingt notwendig auf, sprach mit niemand und machte ein mürrisches Gesicht, wenn jemand ihn anzusprechen versuchte, was allerdings selten genug vorkam, da seine abweisende Art bekannt war. Seit mehr als fünfzehn Jahren war er nicht mehr über Bartlesville hinausgekommen und verspürte auch gar nicht den Wunsch danach.
Nein, Siegfried Gross wäre so ziemlich der schlechteste Wirt, den der Parasit für seine Zwecke wählen konnte. Jetzt erfüllte er noch seinen Zweck, aber wenn er seine Pflicht getan hatte, mußte er gehen.
Außerdem hatte der Parasit heute nacht bereits einen idealen Wirt entdeckt, der ihm jede gewünschte Information zutragen konnte – die Katze. Solange er sich noch in Gross befand, schieden Katzen als Wirte aus, aber eine von ihnen würde ihn schließlich zu dem Menschen in oder in der Nähe von Bartlesville führen, der sich am besten als Wirt eignete. Im Augenblick hatte der Parasit keine Eile, da die Nahrungsaufnahme noch nicht beendet war.
Aber solange Gross ohnehin warten mußte, konnte es nicht schaden, wenn der Parasit sich über die Menschen auf den benachbarten Farmen informierte. Er erfuhr auf diese Weise einige neue Einzelheiten, die ihm allerdings im Augenblick nicht als wichtig erschienen. Gross wußte viel weniger über seine Nachbarn als zum Beispiel Tommy Hoffmann. Und er hatte noch nicht einmal von Tommys »Selbstmord« gehört; wahrscheinlich hätte er erst auf seiner nächsten Fahrt in die Stadt davon erfahren.
Der Parasit erhielt aber eine Antwort auf die Frage, die er zuvor nicht selbst zu lösen vermocht hatte – warum auf der Nachbarfarm ein Hund gehalten wurde, der so bissig war, daß er an die Kette gelegt werden mußte. Dabei handelte es sich um eine tragende Hündin, die seit einigen Tagen jeden anfiel, der sich ihr näherte. Ihr Besitzer, ein gewisser Loursat, wollte sie nur noch so lange behalten, bis sie geworfen hatte, weil er annahm, daß die Jungen sich als normal erweisen würden. Deshalb hatte er die Hündin vorläufig im Stall angekettet und den strengen Befehl gegeben, daß niemand zu ihr dürfe. Gross hatte davon erfahren, als Loursat ihm einen der jungen Hunde angeboten hatte. Er hatte abgelehnt, weil er Hunde nicht ausstehen konnte; er duldete auch die Katze nur auf der Farm, weil sie Mäuse fing.
Der Parasit sah durch die Augen seines Wirts auf die Uhr an der Wand und stellte fest, daß er sich nun lange genug in der Nährlösung befand; in diesem Fall mußte er sich nach einer Uhr richten, da die Sinnesorgane seines Körpers nicht funktionierten, solange er sich in einem Wirt befand.
Gross erhob sich, nahm den Körper des Parasiten aus der Flüssigkeit und ging auf die ins Freie führende Tür zu. Dann änderte der Parasit seine Absicht und ließ ihn zu dem Abspülbecken zurückgehen. Er spülte den Panzer gründlich mit warmem Wasser ab und rieb ihn trocken. Der Parasit hatte sich noch rechtzeitig überlegt, daß der Geruch nach Fleisch ein Tier anlocken konnte, das vielleicht unter die Treppe kriechen und ihn hervorzerren würde. Er selbst war völlig geruchlos. Das hatte er erfahren, als er Buck benutzt hatte, um sich in der Höhle ausgraben und fortschaffen zu lassen.
Gross trug ihn nach draußen, wobei er die Tür einen Spalt breit offen ließ, um genügend Licht zu haben. Der Parasit ließ sich von ihm tief unter die Treppe schieben und dort locker mit Erde bedecken. Der Mann beugte sich noch einmal zu Boden, als er bereits wieder auf der Treppe stand, und verwischte sorgfältig alle Fußabdrücke, die seine bloßen Füße auf dem weichen Untergrund hinterlassen hatten.
Dann ging er hinein, um zu sterben.
Aber zuerst beseitigte er sämtliche Spuren seiner nächtlichen Tätigkeit; er schüttete den Rest der Flüssigkeit in den Ausguß und wusch die Gefäße ab, die er benutzt hatte. Er stellte die beiden Töpfe an den gewohnten Platz und die Schüssel zu den übrigen. Wahrscheinlich würde Elsa sich darüber wundern, daß die Fleischbrühe und die Soße so plötzlich verschwunden waren, aber schließlich konnte sie auch nichts daran ändern. Außerdem war sie in letzter Zeit in zunehmendem Maße zerstreut geworden; vielleicht würde sie sogar glauben, daß sie die Fleischbrühe und die Soße bereits verwendet hatte und es nur nicht mehr wußte.
Außerdem hatte sie dann auch den Schock wegen seines unerwarteten Todes zu überwinden, so daß sie sich kaum mit solchen Belanglosigkeiten beschäftigen würde. Obwohl sie nicht um ihn trauern würde, war doch zu erwarten, daß diese plötzliche Veränderung in ihrem bisher so geruhsamen Leben ihr einen Schock versetzen würde. Später würde sie zu der Erkenntnis kommen, daß ihre finanzielle Lage sich durch den Selbstmord ihres Mannes erheblich verbessert hatte. Schließlich konnte ein Mensch von dem Verkaufserlös der Farm wesentlich besser und komfortabler leben als zwei.
Sollte er in seinem Abschiedsbrief darauf eingehen? Diesmal würde ein letzter Brief gefunden werden, denn der Parasit wollte nicht noch einmal den gleichen Fehler wie bei Tommy Hoffmann begehen. Er wollte den Selbstmord des Farmers als völlig normal erscheinen lassen und vor allem ein plausibles Motiv angeben, damit der Fall kein unangemessenes Aufsehen erregte.
Er ließ also Gross einen Schreibblock und einen Bleistift holen, mit denen er sich an den Küchentisch setzte. Dann überlegte er, was Gross schreiben würde, wenn er wirklich Selbstmord begehen würde. Jedenfalls würde er nicht auf den Gedanken kommen – und folglich auch nichts davon erwähnen –, daß Elsa auf diese Weise besser versorgt wäre. Dergleichen selbstlose Überlegungen waren ihm völlig fremd. Nein, wenn er überhaupt schrieb, dann würde er nur kurz den Grund angeben – kein Geschwafel, keine Entschuldigungen und ganz gewiß keine rührenden Abschiedsworte.