Gross schrieb langsam und umständlich.
»Ich erschieße mich, weil ich die Schmerzen nicht mehr aushalten kann.«
Nun noch die Unterschrift, dann war alles vorbereitet. Gross nahm seine Schrotflinte aus dem Wandschrank in der Küche, lud sie und setzte sich wieder an den Tisch. Dann steckte er den Lauf in den geöffneten Mund und betätigte den Abzug. Blut spritzte über den Tisch und befleckte auch den Schreibblock, aber der Text war noch immer lesbar.
Der Parasit befand sich wieder in seinem eigenen Körper unter der Treppe, so daß er seinen Spürsinn gebrauchen konnte, um zu hören, wie Elsa vom Schlafzimmer aus nach ihrem Mann rief. Er beobachtete, wie sie Licht machte, die Treppe hinabeilte und die Küchentür aufriß.
9
Doc Staunton erwachte langsam, drehte sich auf den Rücken und hob den linken Arm, um auf die Uhr zu sehen. Es war bereits nach zehn, was ihn keineswegs überraschte, nachdem er am Abend zuvor reichlich spät ins Bett gekommen war. Er war nachmittags nach Bartlesville gefahren, weil er wegen des überfahrenen Hundes in dem Laboratorium in Green Bay anrufen wollte. Durch dieses Telefongespräch hatte er etwas erfahren, was er – das wurde ihm allerdings erst später klar – schon längst gewußt hatte.
Der Hund war nicht tollwütig gewesen und wies auch sonst keinerlei organische Defekte auf, die erklärten, weshalb er vor Stauntons Wagen gelaufen war.
Doc hatte einen leisen Seufzer ausgestoßen und dann in Wilcox angerufen, um mit dem Sheriff zu sprechen. Der Sheriff sollte sich dafür interessieren. Aber er war fortgegangen, ohne in seinem Büro zu hinterlassen, wo er zu erreichen war. Doc blieb also in Bartlesville, aß dort zu Abend und versuchte es später noch mehrmals mit der Privatnummer des Sheriffs, ohne eine Antwort zu bekommen.
Dann hatte er sich die Zeit in der Bar vertrieben, wo er zu einer Partie Poker eingeladen worden war, die gerade im Nebenzimmer beginnen sollte. Ein Geschäftsinhaber aus Bartlesville – Hans Weiss, bei dem Staunton seine Lebensmittel kaufte –, hatte ihn dazu aufgefordert. Sie spielten nicht zu hoch, sondern gerade hoch genug, um das Spiel interessant zu machen; ein Nickel Einsatz, fünfzig Cents Limit. Doc verlor innerhalb der ersten halben Stunde zwölf Dollar, ohne auch nur ein einziges Mal gute Karten bekommen zu haben, aber dann machte er seinen Verlust in einem Spiel fast wieder wett und gewann weiter.
Er versuchte noch zweimal den Sheriff zu erreichen, aber als er ein drittes Mal auf die Uhr sah, war es kurz vor Mitternacht, so daß er nicht noch einmal anrufen wollte. Zu diesem Zeitpunkt spielten sie bereits zu siebt und er war der große Gewinner – etwas mehr als siebzig Dollar –, deshalb konnte er nicht gut aufhören, bevor nicht ein anderer den Vorschlag machte, daß es für diesmal wohl genug sei. Das geschah erst um halb eins, so daß er gegen zwei Uhr nach Hause kam – mit siebenundvierzig Dollar mehr in der Tasche. Und einer Einladung zu einer weiteren Partie, wenn er wieder einmal Lust dazu verspüren sollte. Schließlich mußte er den anderen Gelegenheit zur Revanche geben, nachdem sie ihn schon so freundlich in ihrer Mitte aufgenommen hatten.
Jetzt, am Donnerstagmorgen, gähnte er herzhaft und stand auf. Vielleicht war es besser, wenn er noch am Vormittag von Bartlesville aus mit dem Sheriff telefonierte; falls der Sheriff Zeit für ihn hatte, konnte er nach Wilcox fahren und ihn dort aufsuchen. Wenn der andere aber ohnehin in Bartlesville zu tun hatte, ließ es sich vielleicht einrichten, daß sie gemeinsam zum Essen gingen.
Er kochte sich zum Frühstück nur einen starken Kaffee und war um halb zwölf bereits in der Stadt, wo er den Sheriff von einem Drugstore aus anrief. Diesmal erreichte er ihn.
»Hier spricht Doc Staunton, Sheriff«, sagte er. »Ich wollte mich gern mit Ihnen über etwas unterhalten, wenn Sie ein paar Minuten für mich erübrigen können. Sind Sie heute sowieso in Bartlesville, oder soll ich nach Wilcox fahren und in Ihr Büro kommen?«
»Ich wollte gerade losfahren, Doc. In Richtung Bartlesville.«
»Ausgezeichnet. Wollen Sie mit mir essen?«
»Gern, danke. In welchem Restaurant?«
»Warum treffen wir uns nicht einfach in der Bar?« schlug Doc vor. »Ein Schluck Bier schadet bestimmt nicht, wenn wir bald danach zum Essen gehen.«
Der Sheriff war damit einverstanden und versprach, in einer halben Stunde in der Bar zu sein.
Staunton legte auf und ging an die Ladentheke hinüber, um ein paar Kleinigkeiten zu kaufen. Der Drogist gehörte zu den Männern, mit denen er am Abend zuvor Poker gespielt hatte, deshalb begrüßten sie sich wie alte Freunde.
»Sie haben mit dem Sheriff telefoniert, Doc?« fragte der andere. »Ist etwas passiert? Hoffentlich nichts Ernstes.«
»Nein. Ich wollte ihm nur etwas erzählen.«
»Nichts über unsere kleine Partie Poker, hoffe ich. Hören Sie, Doc, Sie wohnen doch an der Bascombe Road, nicht wahr?«
Staunton nickte. »Im letzten Haus. Warum?«
»Dort draußen ist letzte Nacht wieder ein Selbstmord geschehen. Oder haben Sie schon davon gehört?«
Staunton fühlte, wie sich die Haare in seinem Nacken langsam aufrichteten. »Nein, bis jetzt noch nicht. Ich bin erst seit einer halben Stunde in der Stadt. Wer hat denn Selbstmord begangen?«
»Siegfried Gross, ein alter, mürrischer Kerl. Kein großer Verlust für die Menschheit; keiner konnte ihn ausstehen. Er wohnt – wohnte – ungefähr acht Kilometer außerhalb der Stadt, das heißt, etwas mehr als fünf von Ihnen entfernt.«
Staunton erkundigte sich nach den Umständen des Falls und erfuhr, daß Gross sich mit einer Schrotflinte mitten in der Nacht erschossen hatte, und daß er einen Abschiedsbrief hinterlassen haben sollte, in dem er als Grund dafür die Schmerzen anführte, die sein Leiden mit sich brachte.
Staunton verstaute seine Einkäufe auf dem Rücksitz des Autos und machte sich mit nachdenklich gesenktem Kopf auf den Weg zu der kleinen Bar. Mike, der Barkeeper, unterhielt sich mit zwei anderen Gästen über den neuen Selbstmordfall, aber keiner der drei Männer wußte mehr darüber, als Doc bereits in dem Drugstore erfahren hatte.
Staunton bestellte ein Bier und trank ab und zu einen kleinen Schluck davon, bis er den Sheriff hereinkommen sah. Dann leerte er sein Glas mit einem Zug und setzte sich zusammen mit dem anderen an einen der Tische.
»Diesmal kein Bier für mich, Mike«, sagte der Sheriff mit müder Stimme. »Ich brauche einen Drink, der mich ein bißchen aufmuntert. Einen doppelten Bourbon.« Doc bestellte sich ein zweites Bier.
Der Sheriff gähnte ausgiebig. »Vermutlich haben Sie bereits von Siegfried Gross gehört«, begann er. »Ich mußte kurz nach Mitternacht zu seiner Farm hinausfahren und habe seitdem kein Auge mehr zugetan. Sie können sich vorstellen, wie müde ich jetzt bin. Und nach dem Essen muß ich noch einmal hinaus.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mitfahre?« erkundigte sich Staunton.
»Wenn Sie Lust dazu haben. Wollten Sie mit mir über den Fall Gross sprechen, Doc?«
»Nein. Ich hatte noch nicht einmal etwas davon gehört, als ich Sie vorhin anrief. Es handelt sich um den Hund, den ich überfahren habe. Er war nicht tollwütig.«
Der Sheriff hob seine buschigen Augenbrauen. »Sie haben ihn untersuchen lassen? Warum denn, wenn er niemand gebissen hat? Oder hat er doch jemand angefallen?«
»Nein, das nicht. Aber ich war neugierig geworden, nachdem Sie mir selbst erzählt hatten, daß der Hund Angst vor Autos gehabt habe. Warum sollte er also vor die Räder meines Wagens gelaufen sein? Diese Tatsache wäre nur damit zu erklären gewesen, daß er die Tollwut hatte.«