»Hund!«, sagte Abu Dun hasserfüllt.
»Verdammter, verräterischer Hund! Dafür töte ich ihn! Macht euch bereit! Sie wollen uns entern!« Andrej teilte seine Meinung nicht. Die ›Möwe‹ hielt weiter auf sie zu, doch nun, als er den ersten Schrecken überwunden hatte, sah er auch, das das Schiff nicht annähernd so riesig war, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Sein Deck lag ein gutes Stück höher als das des Sklavenseglers, aber es war viel kleiner und es war kein Kriegsschiff, sondern ein plumper Frachter..
»Da stimmt etwas nicht«, sagte er. Abu Dun nickte grimmig. Er mochte ein Mörder sein, aber er war kein Dummkopf.
»Vielleicht glaubt er ja, das sein Christengott ihn beschützt«, sagte er.
»Also gut, dann entern wir ihn. Ich will diesen Pfaffen lebendig, hört ihr?« Den letzten Satz hatte er geschrien, aber seine Männer machten auch jetzt keine Anstalten, seinem Befehl zu folgen. Denn der Wind frischte auf und eine weitere Böe riss den Nebel endgültig auseinander und gewährte ihnen einen Blick auf ein zweites, viel größeres Schiff, das aus der anderen Richtung auf sie zuhielt. Diesmal war Andrej nicht sicher, ob er das Schiff tatsächlich sah oder in eine schreckliche Vision hinabglitt. Das Schiff sah aus, als hätte die Hölle selbst es ausgespien. Es war schwarz. Es mußte mindestens doppelt so groß sein wie Abu Duns Sklavensegler. Die Reling war mit runden Schilden und gefährlich aussehenden metallenen Dornen gespickt. Auch Segel und Takelage waren schwarz. Das Einzige, was nicht schwarz an ihm war, war ein riesiger feuerroter Drache, der auf dem Hauptsegel prangte.
»Scheijtan!«, keuchte Abu Dun. Scheijtan, das arabische Wort für Teufel.
»Nicht ganz«, murmelte Andrej.
»Aber ich fürchte, du bist nahe dran.« Mühsam riss er seinen Blick von dem schwarzen Segler los und deutete wieder zur ›Möwe‹. Vater Domenicus’ Schiff war mittlerweile nahe genug herangekommen, das er die drei Männer erkennen konnte, die in seinem Bug standen. Domenicus und seine beiden dämonischen Krieger, die Männer in den goldenen Rüstungen. Domenicus stand zwar hoch aufgerichtet zwischen den beiden goldenen Rittern, aber nur, weil diese ihn unter den Armen ergriffen hatten und ihn stützten. Die Verletzung, die Frederic ihm zugefügt hatte, war offenbar noch lange nicht verheilt.
»Da sind sie!«, schrie Domenicus.
»Tötet sie! Verbrennt die Teufelsbrut! Tötet sie alle!« Er machte eine wedelnde Bewegung mit dem linken Arm, die ihn um ein Haar das Gleichgewicht gekostet hätte, und hinter der Reling des schwarzen Seglers erschien eine einzelne, bizarre Gestalt. Der Mann war riesig. Er mußte weit über zwei Meter messen und Andrej war nicht einmal sicher, das es sich wirklich um einen Mann handelte, denn sein Gesicht war so wenig zu erkennen wie irgendetwas von seinem Körper. Er trug eine dunkelrote Rüstung, die die Farbe geronnenen Blutes hatte und über und über mit fingerlangen Stacheln und Dornen gespickt war. Sein Gesicht verbarg sich hinter einem Visier, das der Form nach einem mythischen Fabelwesen nachempfunden worden war. Vermutlich war es der Drache, den das Schiff auch im Segel führte.
»Verbrennt die Hexen!«, schrie Domenicus mit schriller, fast überschnappender Stimme. Der rote Ritter hob den Arm. Hinter ihm glomm ein winziger, aber höllisch weißer Funke auf dem Deck des Schiffes auf. Andrej schloss geblendet die Augen und wandte sich ab, aber es nutzte nichts. Aus dem Funken wurde eine Linie aus orangerotem Feuer, die wie ein glühender Finger in die Höhe und dann wieder hinunter und nach dem Piratenschiff griff. Sie bewegte sich träge, fast gemächlich und sie war zu kurz gezielt: Der Halbkreis aus flüssigem Feuer verfehlte das Schiff und prallte zwei Meter vor dem Bug aufs Wasser. Die Flammen erloschen nicht. Andrej beobachtete fassungslos, das das Wasser das Feuer nicht löschte, sondern das Feuer den Fluss in Brand setzte! Abu Dun sog ungläubig die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Was ist das?!«, keuchte er.
»Das ist Zauberei!« Nicht ganz, dachte Andrej entsetzt. Aber es kommt ihr nahe.
»Griechisches Feuer!«, murmelte er.
»Großer Gott, das ist Griechisches Feuer!« Abu Duns Antwort ging in einem gellenden Schrei unter. Der Feuerstrahl war weiter gewandert, berührte den Bug des Schiffes und setzte die Reling in Brand. Die Männer prallten entsetzt zurück, aber einer der Piraten reagierte nicht schnell genug. Nur ein Spritzer der brennenden Flüssigkeit berührte sein Gewand, aber schon dieser winzige Spritzer reichte, ihn wie eine lebende Fackel auflodern zu lassen. Schreiend torkelte der Mann einige Schritte zurück und brach zusammen, während vor ihm der gesamte Bug des Schiffes in Flammen aufging.
»Bei Allah!«, keuchte Abu Dun.
»Bringt euch in Sicherheit! Ins Wasser!« Falls seine Männer die Worte über dem Prasseln der Flammen und dem Chor gellender Schreie überhaupt hörten, so blieb ihnen keine Zeit mehr, darauf zu reagieren. Der Finger aus flüssigem Höllenfeuer wanderte weiter und setzte das gesamte Vorderschiff in Brand. Die Hitze war selbst hier so unerträglich, das t, Andrej abwehrend die Arme vor das Gesicht riss und für einen Moment keine Luft mehr bekam. Zwei, drei weitere von Abu Duns Männern wurden von den brodelnden Flammen ergriffen und verzehrt, den anderen gelang es, sich in Sicherheit zu bringen, und auch Andrej erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Er fuhr herum und rannte mit Riesenschritten auf die Luke zu, in der Frederic verschwunden war.
»Lauft!«, schrie er.
»Bringt euch in Sicherheit!« Aber wie? Er wußte, das das Schiff verloren war. Nichts, keine Macht der Welt, konnte Griechisches Feuer löschen. Der gesamte Bug des Schiffes stand bereits in hellen Flammen, die erst dann erlöschen würden, wenn es nichts mehr gab, was sie verzehren konnten. Wer immer an Bord des Drachenseglers die teuflische Maschinerie bediente, die einen längst vergessen geglaubten Schrecken aus vergangener Zeit auf das Schiff schleuderte, er tat es mit erschreckender Präzision. Der Feuerstrahl fraß sich durch das Vorderdeck des Schiffes, spritzte lodernde Flammen in die Takelage und setzte die Segel in Brand. Andrej hatte Abu Dun längst aus den Augen verloren. Die Hitze war beinahe unerträglich. Er stürmte die Treppe hinunter und sah gerade noch, wie Frederic die schwere Tür zum Sklavenquartier aufschob, eine Aufgabe, die seine gesamte Kraft zu beanspruchen schien.
»Nein!«, brüllte er.
»Nicht!« Frederic hielt mitten in der Bewegung inne und drehte sich verwirrt zu ihm um. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, was direkt über seinem Kopf geschah. Andrej war mit einem einzigen gewaltigen Satz bei ihm und riss ihn zurück.
»He!«, schrie Frederic.
»Was ...?« Die Hitze war mittlerweile selbst hier unten zu spüren. Ein böses, loderndes Licht füllte die Luke aus, durch die Andrej heruntergekommen war. Er hatte keine Zeit für irgendeine Erklärung. Ohne auf Frederics Widerstand zu achten, zerrte er ihn herum, riss ihn in die Höhe und trug ihn zur Treppe zurück. Hitze schlug ihm wie eine unsichtbare Hand entgegen und nahm ihm den Atem, aber er stürmte weiter. Das Deck war eine Hölle aus Hitze, Licht, Schreien und tobender Bewegung. Frederic stieß einen keuchenden Schrei aus. Andrej versuchte erst gar nicht, sich zu orientieren, sondern rannte blindlings in die Richtung, in der das Licht am wenigsten grell war und wohin die Hitze nicht das Gesicht verbrannte. Eine in Flammen gehüllte Gestalt torkelte vorüber und brach zusammen, dann prallte Andrej gegen die Reling und wäre fast gestürzt. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, schleuderte er Frederic in hohem Bogen über die Reling, fort von dem grausamen, verzehrenden Licht.
»Schwimm!«, schrie er.
»Zum Ufer!« Noch bevor Frederic mit einem gewaltigen Platschen im Wasser verschwand, schwang auch er sich über die Reling und sprang von Bord. Nach der grausamen Hitze, die auf dem Deck des Piratenseglers geherrscht hatte, war das eisige Wasser ein Schock. Andrej schnappte instinktiv nach Luft, schluckte Wasser und spürte, wie sein Herz aus dem Takt geriet, während er von der Wucht des Aufpralls meterweit unter die Wasseroberfläche gedrückt wurde. Automatisch begann er zu paddeln, kam wieder nach oben und rang keuchend nach Luft, als er die Wasseroberfläche durchbrach. Die Luft verbrannte seine Kehle und füllte seine Lungen mit weißem, flüssigem Schmerz. Er schrie, ging abermals unter und kam irgendwie wieder nach oben, ohne zu wissen, wo er war und in welche Richtung er sich bewegte. Neben ihm war plötzlich eine Gestalt, eigentlich nur eine Bewegung. Er glaubte, es sei Frederic, griff zu und spürte, das er sich getäuscht haben mußte. Die Gestalt war zu groß, viel zu schwer und vollkommen reglos. Der Mann war ohnmächtig oder bereits tot. Statt ihn jedoch loszulassen, drehte sich Andrej auf den Rücken, lud sich den Mann so auf die Brust, das sein Gesicht über Wasser blieb und er atmen konnte, und schwamm los. Er konnte nur hoffen, das er sich in die richtige Richtung bewegte. Diesmal war das Schicksal ausnahmsweise auf seiner Seite gewesen. Schon nach wenigen Augenblicken hatte ihn die an dieser Stelle außergewöhnlich starke Strömung ergriffen. Er hatte nicht versucht, dagegen anzukämpfen, sondern war nur bemüht gewesen, in einen möglichst gleichmäßigen und Kräfte sparenden Rhythmus zu gelangen.