Erst mußte sich Karin jedoch noch einmal vor den Spiegel stellen, da die Tränen in ihrem Gesicht Zerstörungen hervorgerufen hatten, mit denen sie sich nicht der Öffentlichkeit präsentieren konnte. Dann wurde sie von den drei Herren hinunter zu dem weißen Mercedes geleitet. Der livrierte Chauffeur riß bei ihrem Erscheinen den Wagenschlag auf und salutierte militärisch. Im Nu sammelte sich eine kleine Menschenmenge an, die der Abfahrt rufend und winkend beiwohnte.
Karin blickte, als sich der Wagen in Bewegung setzte, in den Rückspiegel und sah in der Menge den Mann, der ihren Tränensturz ausgelöst hatte, stehen, still, braungebrannt, beobachtend. Sie sah auch noch, wie er sich abwandte und die Richtung zum Strand einschlug, als wolle er noch einmal den Korb und die kleine Sandburg an der niedrigen Düne aufsuchen, ehe er vielleicht Nickeroog zu verlassen gedachte.
Da lehnte sich Karin Fabrici weit in ihren Sitz zurück und schloß die Augen.
Nicht denken, sagte sie sich immer wieder vor, nicht denken. Morgen ist alles vorbei, der ganze Rummel, und du wirst ihn vergessen.
Wen >ihn<?
Den Rummel?
Oder ihn?
Werde ich den Rummel vergessen können? Ja, den ohne weiteres.
Werde ich aber auch ihn vergessen können.?
Kapitel 7
Peter Krahn fühlte sich gar nicht wohl, als er an der Mole von Nik-keroog den Bäderdampfer verließ und zusammen mit einem Schwarm von Sommergästen den weißen Strand betrat, der, geschmückt mit Fahnen und Girlanden, die Neuankommenden empfing. Kleine Pferdekutschen standen bereit, welche die Gäste zu dem zwei Kilometer entfernten Hotelort bringen sollten. Ein Schwarm von Eisverkäufern fiel mit Rufen und Anpreisungen über die neue Kundschaft her. Da auf diesem Dampfer eine Reisegesellschaft, die angekündigt worden war, eintraf und mit einem großen Transparent über ihren Häuptern (>Immer fröhlich, immer froh — mit Reisedienst Franz Om-merloh<) von Schiff marschierte, hatte sich am Ufer auch eine Blaskapelle eingefunden und spielte einen flotten Marsch aus guter alter Preußenzeit. Bekannte schüttelten sich die Hände, Verwandte lagen sich in den Armen, eine Gruppe von Studenten empfing einige Kommilitonen mit einem dröhnenden Gaudeamus igitur<, und zwei Frauen mittleren Alters sahen so aus, als landeten sie auf der Insel, um ihre Ehemänner aus einem Sündenbabel herauszuholen.
Peter Krahn stand am Strand, fühlte, wie der feine weiße Sand in seine offenen Schuhe drang, und sah sich ratlos um. An einem Mast entdecke er ein Spruchband, dessen Text ihn zusammenzucken ließ: Miss Nickeroog heißt auch Sie willkommen.< Und an einer Kioskwand hieß es: Wollen Sie Miß Nickeroog sehen, kommen Sie abends ins Kurhotel<.
Peter Krahn erlitt dadurch einen kleinen Schock, der ihn plötzlich erkennen ließ, daß er sich in Düsseldorf vom alten Fabrici eine Aufgabe hatte aufbürden lassen, der er hier — das wußte er jetzt — nie und nimmer gewachsen war.
In einem Anfall von Reue über sein wahnwitziges Unternehmen ging er zu dem Häuschen der Schiffahrtsgesellschaft und studierte den Fahrplan der Rückfahrten. Aber er hatte ausgesprochenes Pech, denn dieses Schiff war das letzte, blieb in Nickeroog liegen und nahm erst am nächsten Morgen um 7.30 Uhr wieder Kurs auf Norddeich.
Unschlüssig sah sich Peter Krahn um. Dann zuckte er, in sein Schicksal ergeben, die Achseln und bestieg mit einigen anderen Nachzüglern eine der kleinen Pferdekutschen. Gemächlich rollte das Gefährt den Strand entlang, an den die langen Wellen der Flut klatsch-ten, die kurz zuvor eingesetzt hatte. Überall sah man lustige Menschen, die den Kutschen zuwinkten, >Neger<, welche die >Weißen< mit spöttischen Zurufen bedachten, junge Pärchen, die zwischen den Dünen nicht ihr Heil, aber ihr Glück suchten. Sogar auch einige flotte Reiter, die ihren Abendritt machten, ließen sich bewundern.
Die Neger<, das waren die Braungebrannten, die schon länger auf der Insel weilten und ihre Luxuskörper der Sonne ausgesetzt hatten; die >Weißen<, das waren jene, deren Urlaub erst begann.
Peter Krahn fuhr sich mit dem Finger zwischen Hals und Kragen. Er fühlte sich unbehaglich. Die Miß Nickeroog-Transparente< hatten ihn sozusagen aus der Bahn geworfen.
«Gestatten«, sagte er zu dem Mann, der neben ihm saß,»Peter Krahn.«
Damit hatte der andere, der einen Stumpen paffte, wohl nicht gerechnet. Er schien überrascht.
«Angenehm«, erwiderte er notgedrungen.»Franz Joseph Biechler.«
Aus Potsdam stammt der nicht, erkannte Krahn sehr wohl und sagte:»Ich habe gesehen, daß Sie nicht mit unserem Schiff ankamen.«
«Nein.«
«Sie haben jemanden erwartet?«
«Ja.«
«Aber der kam nicht?«
«Nein.«
Kein gesprächiger Typ, dachte Peter Krahn und wollte auch wieder in Schweigen versinken, um den anderen in Ruhe zu lassen. Doch nun sagte dieser:»Sie sind Rheinländer?«
«Ja. Hört man das?«
«Sehr gut. Ich bin Bayer.«
«Mit einem Berliner hätte ich Sie auch nicht verwechselt.«
Das Eis war gebrochen. Beide grinsten.
«Wie war Ihr Name?«fragte der Münchner.
«Peter Krahn.«
«Der meine Biechler. Franz Joseph Biechler.«»Den Vornamen hätten Sie nicht wiederholen müssen. Der prägt sich einem schon beim erstenmal ein, so markant ist er.«
«Denken Sie jetzt an den österreichischen Kaiser oder an unseren bayerischen?«
«An den bayerischen — aber ich höre von Ihnen zum erstenmal, daß der schon zum Kaiser ausgerufen worden ist.«
«Wer?«
«Euer Franz Joseph.«
«Der nicht, nein, aber von dem rede ich ja auch gar nicht.«
«Von wem dann?«
«Vom Franz«, fuhr Biechler fort zu blödeln.
Krahn guckte dumm.
«Vom Kaiser Franz«, half ihm Biechler auf die Sprünge.
«Ach«, leuchtete es im Gesicht Krahns auf,»vom Beckenbauer. Ja, der sticht jedes gekrönte Haupt aus, für den schlägt jedes bayerische Herz, das glaube ich. Oder hat es ihm geschadet, daß er München verlassen hat?«
«Nach Amerika?«
«Und anschließend sogar nach Hamburg.«
«Überhaupt nicht«, sagte Biechler mit der Hand winkend.»Von gekrönten Häuptern — um auf Ihren Ausdruck zurückzukommen — ist man es heutzutage ja gewöhnt, daß sie ins Exil gehen. Nur war es früher so, daß sie von ihren Völkern vertrieben wurden.«
«Und heute?«
«Vom Finanzamt.«
«War es das allein, daß bei Beckenbauer der Fall zutraf?«
«Nein, nicht ganz, aber das andere, was noch hinzukam, hätte er verkraften können, ohne zu emigrieren.«
Die großen, weißen Hotels tauchten vor ihnen auf. Die Kutsche fuhr unter einem Transparent hindurch, auf dem die Gäste noch einmal willkommen geheißen wurden. Peter Krahn fühlte sich wieder an Karin erinnert, und das alte Unbehagen stellte sich ein.
«Ihnen ist aufgefallen«, sagte Biechler,»daß ich am Strand quasi versetzt wurde.«»Ja. Auf wen haben Sie denn gewartet?«
«Auf meinen Freund mit seiner Frau. Gott sei Dank kamen sie nicht«, erwiderte Biechler.»Dazu kann ich die beiden nur beglückwünschen.«
«Beglückwünschen? Wieso?«
«Ich kenne den, wissen Sie. Den hätte hier sehr rasch keiner mehr aushalten können. Der lebt nämlich in der Ramsau bei Berchtesgaden. Einen größeren Unterschied können Sie sich gar nicht vorstellen. Daher bin ich für ihn froh, daß er es sich anscheinend im letzten Moment wieder anders überlegt hat.«
«Ist es denn hier so schlimm?«
«Na ja«, seufzte Franz Joseph Biechler, zwei gewaltige Wolken aus seinem Stumpen holend.
«Haben Sie Langeweile?«
«Wenn wenigstens das Bier besser wäre«, lautete Biechlers Antwort,»dann ließe sich alles andere ertragen, das Salzwasser, der ewige Wind, das Geschrei der Möwen, der Sand zwischen den Zehen, die Sprache der Fischer, die kein Mensch versteht. und so weiter und so fort. Sie werden das alles selbst erleben.«