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Bestimmt war das noch nicht die ganze Geschichte; es musste mehr dahinterstecken. Aber machte das die Tragödie und das Widerwärtige besser? Narraway hatte gesagt, Cormac O’Neil habe sich rächen wollen. Die einzige Frage, die in diesem Zusammenhang von Interesse war, lautete, warum er damit zwanzig Jahre gewartet hatte.

Pitt hatte stets volles Vertrauen zu Narraway gehabt, das wusste sie ohne den geringsten Zweifel. Sie wusste aber auch, dass er den meisten Menschen positiv gegenüberstand, auch wenn ihm klar war, dass sie ein komplexes Wesen hatten, zu Feigheit, Habgier und Gewalttat fähig waren. Ob er je etwas von der Düsternis in Narraway erkannt hatte, etwas von dem Menschen, der sich hinter dem Kämpfer gegen die Feinde des Landes versteckte? Die beiden waren denkbar verschieden. Wo der eine auf seinen Instinkt vertraute, verließ sich der andere ausschließlich auf seinen scharfen Verstand. Pitt konnte sich in andere Menschen hineindenken,

Aber er wusste auch, was Dankbarkeit war. Narraway hatte ihm zu einer Zeit, da er dringend darauf angewiesen war, ein Ziel im Leben, Würde und die Möglichkeit gegeben, seine Familie zu ernähren. Das würde er ihm nie vergessen.

War unter Umständen auch er ein wenig zu vertrauensselig?

Mit einem Lächeln erinnerte sie sich an seine Enttäuschung über die Niedertracht des Prinzen von Wales. Sie hatte gespürt, wie sehr er sich da für einen Mann geschämt hatte, von dem er mehr erwartet hätte. Er hatte mehr an das von dessen hoher Berufung unablösbare Ehrgefühl geglaubt als der Prinz selbst. Dafür liebte sie Pitt aufrichtig, denn sie verstand ihn ganz und gar.

Nie und nimmer hätte sich Narraway auf diese Weise täuschen lassen; er hätte von dem Prinzen mehr oder weniger genau das Verhalten erwartet, das dieser schließlich auch an den Tag gelegt hatte, und persönlich verletzt hätte er sich deshalb auf keinen Fall gefühlt.

Ob er sich überhaupt je verletzt gefühlt hatte?

War es denkbar, dass er Kate O’Neil geliebt und sie dennoch für seine Zwecke benutzt hatte? Das entsprach nicht Charlottes Verständnis von Liebe.

Aber möglicherweise hatte er stets seine Pflicht an die erste Stelle gesetzt. Unter Umständen empfand er gerade jetzt zum ersten Mal im Leben einen tief reichenden Schmerz, über den er nicht hinwegkam und der darauf zurückging, dass man ihm das Einzige genommen hatte, was ihm wichtig war: seine Arbeit, die für ihn mehr oder weniger gleichbedeutend mit seiner Identität war.

Warum nur um Himmels willen fuhr sie hier an der Seite eines Mannes, den sie vor dem heutigen Abend noch nie gesehen hatte, durch die finsteren Straßen einer fremden Stadt, ging unvernünftige Risiken ein, tischte anderen Leuten Lügengeschichten auf, um einem Mann zu helfen, den sie selbst kaum kannte? Warum schmerzte sie so sehr, was er verloren hatte?

Die Antwort war einfach – weil sie sich vorstellen konnte, wie sie sich in seiner Situation fühlen würde. Aber er war nicht wie sie. Sie dachte daran, dass ihm an ihr lag, denn das hatte sie in Augenblicken, in denen er seine Gefühle nicht wie sonst beherrscht hatte, an seinem Gesicht erkannt. Sie hatte seine Einsamkeit gesehen, seine Sehnsucht nach einer Liebe, die ihm nur lästig sein würde, wenn man sie ihm schenkte.

»Ich habe gehört, dass Ihnen Talulla Lawless eine Probe ihres Temperaments geliefert hat«, unterbrach McDaid ihre Gedanken. »Das tut mir leid. Sie ist tief verletzt und sieht keinen Grund, daraus einen Hehl zu machen. Aber daran tragen Sie keine Schuld. In jedem Krieg sind Opfer zu beklagen, und unter ihnen ist die Zahl der Unschuldigen, die es zufällig trifft, häufig ebenso hoch wie die der Schuldigen.«

Sie wandte sich ihm zu und sah im Schein der Laterne eines Wagens, der ihnen entgegenkam, ein trübseliges Lächeln auf seinem Gesicht. Dann hüllte ihn wieder die Dunkelheit ein, und sie war sich seiner Gegenwart lediglich aufgrund seiner leisen Stimme sowie des Geruchs von Tabak bewusst.

»Natürlich«, stimmte sie ihm zu.

In der Molesworth Street hielt die Kutsche an.

»Vielen Dank, Mr McDaid«, sagte sie gänzlich gefasst. »Es war äußerst zuvorkommend von Ihnen, mich einzuladen und zu begleiten. Die Gastfreundschaft der Menschen in Dublin ist genau so, wie man es mir berichtet hat, und Sie dürfen mir glauben, dass das ein hohes Lob ist.«

»Wir haben gerade erst angefangen«, gab er mit Wärme zurück. »Grüßen Sie Victor von mir, und sagen Sie ihm, dass wir auf dem eingeschlagenen Weg weitergehen werden. Ich werde nicht ruhen, bis ich Sie davon überzeugt habe, dass Dublin die schönste Stadt der Welt ist und die Iren die besten Menschen. – Das sind wir selbstverständlich trotz unserer Schwierigkeiten und unserer Leidenschaftlichkeit. Man kann uns nicht hassen, müssen Sie wissen.« Im Schein der Lampe sah sie, dass er seine Worte mit einem fröhlichen Lächeln begleitete.

»Jedenfalls nicht auf die Weise, wie Sie uns hassen«, stimmte sie freundlich zu. »Aber wir haben auch keinen Grund dazu. Gute Nacht, Mr McDaid.«

KAPITEL 5

Noch als sie am nächsten Morgen Narraway am Frühstückstisch in Mrs Hogans ruhiger Pension gegenübersaß, hatte sich Charlotte nicht entschieden, was sie ihm sagen wollte. Sie brauchte noch viel mehr Zeit, um einzuordnen, was sie gehört hatte, und möglicherweise würde nicht einmal das helfen. Um diese relativ späte Vormittagsstunde waren keine weiteren Gäste im Speiseraum. Auf den meisten anderen Tischen lagen bereits frische Leinentischtücher mit Spitzenbesatz für das Abendessen.

»Ausgesprochen angenehm«, antwortete sie auf seine Frage nach dem Verlauf des Abends. Dabei merkte sie überrascht, dass das weitgehend ihrer wahren Meinung entsprach. Es war schon lange her, dass sie an einer Abendgesellschaft von so hohem Niveau teilgenommen hatte, bei der zugleich ganz allgemein eine gewisse Leichtigkeit der Atmosphäre geherrscht hatte. In Bezug auf die bessere Gesellschaft schien es ihr keine bemerkenswerten Unterschiede zwischen Dublin und London zu geben.

Sie konzentrierte sich auf das reichhaltige Frühstück, das vor ihr stand. Es war weit mehr, als sie brauchte, um sich bei guter Gesundheit zu erhalten.

»Die Leute waren äußerst freundlich zu mir«, fügte sie hinzu.

»Unsinn«, gab er gelassen zurück.

Von seiner Schroffheit überrascht, hob sie den Blick.

Er lächelte, doch im klaren Licht des Vormittags war außer der Müdigkeit auf seinem Gesicht deutlich etwas zu erkennen, was Furcht sein mochte. Ihre Entschlossenheit, ihm nicht die Wahrheit zu sagen, geriet ins Wanken. Es gab so manches, was sie an ihm nicht deuten konnte, doch die ausgeprägten Falten in seinem Gesicht und die tief in ihren Höhlen liegenden Augen zeigten, wie es wahrhaft um ihn stand.

»Schön«, gab sie nach. »Sie waren gastfreundlich, und ein gewisser Glanz des Ereignisses war sehr angenehm. Trifft es das besser?«

Er war belustigt. Zwar reagierte er nicht mit einem so offenkundigen Signal wie einem Lächeln, doch begriff sie auch so.

» Wen hast du kennengelernt? Natürlich abgesehen von Fiachra.«

»Kennst du ihn schon lange?«, fragte sie zurück, während sie sich mit einem leichten Schauder an McDaids Worte erinnerte.

» Warum willst du das wissen?« Er nahm eine weitere Scheibe Toast und bestrich sie mit Butter. Er hatte noch nicht viel gegessen, und sie fragte sich, ob er überhaupt geschlafen hatte.

»Nun, er scheint durchaus bereit, dir weiterzuhelfen«, erklärte sie, »und er hat mich in Bezug auf dich nach nichts gefragt. «