»Er ist ein guter Freund«, sagte er und sah ihr dabei gerade in die Augen.
Sie lächelte. »Unsinn«, sagte sie im selben Ton wie zuvor er.
»Stimmt«, bestätigte er. »Aber wir kennen einander wirklich schon lange.«
»Kann es sein, dass Irland von Menschen wimmelt, die du schon lange kennst?«
Er strich ein wenig Orangenmarmelade auf seinen Toast.
Sie wartete.
»Ja«, sagte er. »Aber von den meisten weiß ich nicht, auf welcher Seite sie stehen.«
»Wofür brauchst du eigentlich mich, wenn dieser McDaid dein Freund ist?«, fuhr sie mit schonungsloser Offenheit fort. Benutzte er sie etwa dazu, andere abzulenken, während er sich bemühte, die Probleme allein zu lösen? Mit einem Mal kam ihr ein noch entsetzlicherer Gedanke: Vielleicht wollte er nicht, dass sie in London war, wo sich Pitt mit ihr in Verbindung setzen könnte. Wie verwickelt war diese ganze Geschichte eigentlich und wie widerwärtig? Wo mochte sich das unterschlagene Geld gegenwärtig befinden? Ging es wirklich um Geld und nicht in Wahrheit um die Begleichung alter Rechnungen, um Rache? Oder ging es um beides?
Es war dringender nötig denn je, die Wahrheit zu erfahren, oder zumindest alles, was nach wie vor seinen Schatten auf die Gegenwart warf.
Er hatte ihr keine Antwort gegeben.
»Ist es nicht so, dass du mich oder sogar uns beide benutzt und großzügig mit der Wahrheit umgehst?«, hielt sie ihm vor.
Er zuckte zusammen, als habe sie ihn nicht nur seelisch getroffen, sondern auch körperlich. »Ich belüge dich nicht, Charlotte. « Seine Stimme war so leise, dass sie sich ein wenig vorbeugen musste, um zu verstehen, was er sagte. »Ich wähle … nur sehr sorgfältig aus, einen wie großen Teil der Wahrheit ich dir sage …«
»Und worin besteht da der Unterschied?«, erkundigte sie sich.
Er seufzte. »Du bist eine gute Kriminalistin – auf deine ganz besondere Weise beinahe so gut wie dein Mann –, aber die Arbeit im Sicherheitsdienst ist von gänzlich anderer Art als die Ermittlung in einem gewöhnlichen Mordfall.«
»Nicht alle Mordfälle sind gewöhnlich«, widersprach sie. »Liebe und Hass der Menschen lassen sich nur äußerst selten unter diesem Begriff fassen. Die Menschen töten einander aus allen möglichen Gründen, meist aber, um etwas zu schützen, etwas zu bekommen, was ihnen wahrhaft am Herzen liegt, oder um sich für eine Herabsetzung oder Verletzung zu rächen, die sie andernfalls nicht ertragen könnten. Damit meine ich nicht unbedingt körperliche Verletzungen. Seelische Wunden heilen mitunter weit schlechter.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, gab er zurück. »Ich hätte sagen sollen, dass die Bündnisse und Treuebeziehungen sehr viel kompliziertere Netze knüpfen. Geschwister können einander ebenso gut als Feinde gegenüberstehen wie Mann und Frau. Genauso kann es sein, dass Rivalen einander helfen oder gar einer für den anderen in den Tod geht, weil sie derselben Sache dienen.«
»Und dabei werden Unschuldige, die es zufällig trifft, ebenso zu Opfern wie die Schuldigen«, wiederholte sie McDaids Worte. »Meine Rolle ist recht einfach. Ich würde dir gern beistehen, sehe mich aber durch alles in meinem Wesen dazu verpflichtet, in erster Linie meinem Mann zu helfen und natürlich auch mir selbst …«
»Ich hatte gar nicht gewusst, dass du so nüchtern und praktisch denkst«, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln.
»Für mich als Frau mit begrenzten Geldmitteln, die für ihre Kinder sorgen muss, ist ein gewisses Maß an Nüchternheit und praktischem Denken unabdingbar.« Sie sagte das mit freundlicher Stimme, um ihn mit ihren Worten nicht zu kränken.
»Dann wirst du verstehen, dass Fiachra in Bezug auf so mancherlei mein Freund ist, ich mich aber nicht auf ihn verlassen kann, wenn bei der Sache eine andere Lösung herauskommt, als ich vermutet hatte.«
»Es gibt also eine, die du vermutest?«
»Das habe ich dir doch gesagt: Ich nehme an, dass Cormac O’Neil eine ideale Methode entdeckt hat, sich an mir zu rächen, und die hat er genutzt.«
»Für etwas, was zwanzig Jahre zurückliegt?«, fragte sie in zweifelndem Ton.
»Niemand in Europa hat ein längeres Gedächtnis als die Iren.« Er biss in seinen Toast.
»Und haben sie auch so viel Geduld?«, fragte sie ungläubig. »Normalerweise werden Menschen tätig, weil sich irgendwo etwas verändert hat. Das ist der gemeinsame Nenner von Staatsverbrechen und gewöhnlichem, alltäglichem Mord. Etwas, was neu auf der Bildfläche erschienen ist, muss O’Neil – oder wer auch sonst immer dahintersteckt – veranlasst haben, das gerade jetzt zu tun. Unter Umständen hat sich die Möglichkeit dazu erst jüngst ergeben, ebenso gut aber kann es sein, dass er jetzt den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt.«
Er verzehrte den Rest der Scheibe Toast, bevor er antwortete. »Du hast natürlich Recht. Der Haken ist nur, dass ich nicht weiß, welcher dieser Gründe zutrifft. Ich beschäftige mich schon lange gründlich mit der Lage in Irland und vermag keinerlei Anlass dafür zu erkennen, dass O’Neil das gerade jetzt getan hat.«
Ein äußerst unangenehmer Gedanke kam ihr und ließ sie innerlich erschauern. »Müsste er sich dann nicht auch klar darüber sein, dass seine Handlungsweise dich hierherbringen würde?«, fragte sie.
Narraway sah sie aufmerksam an. »Du meinst, dass er mich hier haben möchte? Ich bin sicher, wenn er mich umbringen wollte, wäre er dazu nach London gekommen. Wenn ich der Ansicht gewesen wäre, dass es hier um Mord geht, hätte ich nicht zugelassen, dass du mich begleitest, Charlotte. Bitte billige mir zu, dass ich so weit vorausgedacht habe.«
»Entschuldigung«, sagte sie.
»Um deiner selbst willen kann ich dir nicht alles sagen, was ich weiß«, räumte er ein, »weder was Irland, noch was andere Dinge betrifft. Ich wüsste keinen Grund, warum sich O’Neil – oder auch sonst jemand – ausgerechnet jetzt zu diesem Schritt entschlossen hat. Unbestreitbar hat jemand, der in Dublin über sehr gute Beziehungen verfügen muss, das für Mulhare bestimmte Geld an sich gebracht, um auf diese Weise zu erreichen, dass der arme Teufel umgebracht wurde. Anschließend hat er es auf das besagte Konto zurücküberwiesen und dafür gesorgt, dass Austwick und Croxdale darauf aufmerksam wurden, was – ganz wie gewünscht – zu meiner Entfernung aus dem Amt geführt hat.«
Er goss sich Tee nach. »Vielleicht hat O’Neil die Sache gar nicht selbst in Gang gesetzt, sondern lediglich als williges Werkzeug gedient. Ich habe mir im Laufe der Zeit viele Feinde gemacht. Das bringen Wissen und Macht zwangsläufig mit sich.«
»Dann überleg dir, welche anderen Feinde das sein könnten«, drängte sie ihn. »Bei wem haben sich die Umstände geändert? Gibt es jemanden, dem ihr vielleicht zu dicht auf den Fersen wart?«
»Meinst du wirklich, meine Liebe, dass ich daran nicht gedacht habe?«
»Und du meinst nach wie vor, dass es O’Neil ist?«
»Vielleicht hängt das einfach mit meinem schlechten Gewissen zusammen.« Er lächelte so flüchtig, dass es kaum seine Augen erreichte und gleich wieder verschwunden war. »›Der Gottlose flieht, und niemand jagt ihn‹«, zitierte er. »Aber auf jeden Fall gibt es in diesem Zusammenhang ein Wissen, das ausschließlich mit der Angelegenheit vertraute Menschen besitzen können.«
»Oh.« Sie goss sich ebenfalls noch einmal Tee ein. »Dann sollten wir besser mehr über O’Neil in Erfahrung bringen.
Er schluckte. »Wie hieß sie in Wirklichkeit?«
»Christine Owen«, gab sie zur Antwort.
Er lachte, aber es klang nicht fröhlich, sondern eher ein wenig traurig. Sie sagte nichts, aß ihren Toast auf und leerte ihre Tasse.
Den Vormittag und den größten Teil des Nachmittags hindurch las sie so viel wie möglich über die Geschichte Irlands. Dabei merkte sie, wie groß ihre Wissenslücken waren, und sie schämte sich ein wenig dafür. Da das Land so nahe an England lag und die Engländer es über Jahrhunderte hinweg gewissermaßen besetzt gehalten hatten, war seine Geschichte in den Köpfen der meisten Briten zum Bestandteil der Geschichte des eigenen Landes geworden. Großbritannien beherrschte ein Viertel der ganzen Welt, und die Engländer neigten dazu, Irland ihrem eigenen kleinen Teil davon zuzuschlagen. Das fiel ihnen umso leichter, als die Iren »selbstverständlich« nicht nur der Krone und der Londoner Regierung unterstanden, sondern auch dieselbe Sprache benutzten wie die Engländer – die Existenz des Gälischen hatten die Briten der Einfachheit halber gar nicht erst zur Kenntnis genommen.