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»Ja, Sir. Und möcht’n Se sonst kalt’n Lammbrat’n mit heißem Eintopf aus Kohl un’ Kartoffeln? Das krieg’n Daniel un’ Jemima heute Abend, weil se das gerne ess’n. Se mög’n auch Eier dazu.«

»Eier sind genau das Richtige, vielen Dank.« Es war ihm ernst damit. Was sie gesagt hatte, klang vertraut, versprach Behaglichkeit, und sicher würde es ihm schmecken.

Zwar hatte ihn Lady Vespasia gemahnt, sich von Lisson Grove fernzuhalten, doch blieb ihm seiner Ansicht nach nichts

Auch um für Narraway – und damit automatisch für Charlotte – etwas tun zu können, war er dringend auf Informationen angewiesen, die er nirgendwo anders als in Lisson Grove bekommen konnte.

Hinzu kam, dass er unbedingt die Sache mit Gower aufklären musste. Er hatte keine Vorstellung davon, wie sehr ihn der Sturz aus dem Zug entstellt hatte, doch würde die Polizei sicherlich alles tun, um ihn zu identifizieren und damit zweifellos früher oder später Erfolg haben. Es war nicht auszuschließen, dass man in Lisson Grove bereits Bescheid wusste, wenn er dort eintraf.

Was sollte er den Kollegen sagen? Einen wie großen Teil der Wahrheit konnte er enthüllen? Er wusste nicht, wer seine Feinde waren, sie hingegen kannten ihn nur allzu gut. Instinktiv neigte er dazu, sich so unwissend wie möglich zu stellen. Je weniger man in ihm einen ernst zu nehmenden Gegner sah, desto weniger musste er damit rechnen, dass man ihn aus dem Weg zu räumen versuchte. Diese vorgetäuschte Unwissenheit konnte ihm zumindest für eine Weile als Tarnung dienen.

Was den Angriff im Zug auf ihn anging, dürfte es das Beste sein, die Sache nicht zu verschweigen, da die Polizei den Fall bereits kannte. Nur war es sicher besser, zu erklären, er habe keine Vorstellung, wer der Angreifer war – das würde durchaus glaubwürdig klingen.

In Bezug auf Gower würde er sagen, er habe ihn zuletzt in Saint Malo gesehen, als sie gemeinsam beschlossen hatten, Pitt solle nach London zurückkehren, um sich zu erkundigen, was man in Lisson Grove über eine mögliche Verschwörung wusste, während Gower in Frankreich die Stellung halten und Frobisher, Wrexham und andere mögliche Verdächtige nicht aus den Augen lassen sollte. Selbstverständlich musste er so tun, als wisse er nicht das Geringste über die Sache mit Narraway, und auf jeden Fall würde er sich über die Ungeheuerlichkeit von dessen Handlungsweise entsetzt zeigen müssen, wenn man ihm die Zusammenhänge mitteilte.

Er traf kurz vor vier Uhr im Hauptquartier ein, ging an der Wache vorbei ins Haus und bat darum, mit Narraway sprechen zu können.

Man forderte ihn auf zu warten. Damit hatte er gerechnet und war umso erstaunter, dass Charles Austwick bereits nach vergleichsweise kurzer Zeit nach unten kam und ihn in sein Büro führte. Pitt sah auf den ersten Blick, dass dort nichts mehr auf Narraway hinwies: seine Bilder waren ebenso von den Wänden verschwunden wie das Foto seiner Mutter von dem Bücherregal. Auch Narraways Bücher, überwiegend Gedichtbände und Lebenserinnerungen bedeutender Persönlichkeiten, wie auch die gravierte Messingschale aus dessen Militärdienstzeit in Afrika hatte man entfernt.

Er sah Austwick betont verwirrt an.

»Nehmen Sie Platz, Pitt.« Der neue Leiter des Sicherheitsdienstes wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Ich verstehe gut, dass Sie sich fragen, was zum Teufel hier passiert ist. Zu meinem großen Bedauern muss ich Ihnen eine Eröffnung machen, die Sie vermutlich bestürzen wird.«

Pitt zwang sich, beunruhigt dreinzublicken, als könne er sich keinen Reim auf die Situation machen. »Ist Mr Narraway etwas zugestoßen? Ist er verletzt? Oder krank?«

»In gewisser Weise ist es schlimmer als das«, teilte ihm Austwick mit düsterer Miene mit. »Es besteht Grund zu der Annahme, dass er eine beträchtliche Geldsumme unrechtmäßig an sich gebracht hat. Als man ihn mit diesem Verdacht konfrontiert hat, ist er verschwunden. Niemand weiß, wo er sich aufhält. Selbstverständlich hat man ihn sofort seines Amtes enthoben, und ich habe – jedenfalls einstweilen – seine Aufgabe übernommen. Bis ein offizieller Nachfolger ernannt wird, unterstehen Sie also mir. Mir ist klar, dass das für Sie ein schwerer Schlag sein muss. Offen gestanden war es das für uns alle. Wohl niemand hat sich vorstellen können, dass ausgerechnet Narraway dieser Art von Versuchung erliegen würde.«

Pitts Gedanken jagten sich. Wie sollte er auf diese Eröffnung reagieren? Er hatte geglaubt, sich alles zurechtgelegt zu haben, doch als er jetzt in Narraways einstigem Büro saß, an dem man eigentlich nur wenig verändert hatte, das aber gleichwohl vollständig anders wirkte, überfiel ihn erneut Unsicherheit. Ob Austwick der Judas war, der Narraway ausgebootet hatte? In dem Fall musste der Mann weit klüger sein, als Pitt angenommen hatte. Ohne zu ahnen, dass es im Sicherheitsdienst einen Verräter gab, hatte er Gower rückhaltlos vertraut, mit dem bekannten Ergebnis. Inwieweit konnte er sich auf sein Urteilsvermögen verlassen?

»Ich sehe, dass Sie sprachlos sind«, sagte Austwick verständnisvoll. »Wir hatten hier inzwischen Gelegenheit, uns mit der Vorstellung und der veränderten Situation vertraut zu machen. Die Unterschlagung ist unmittelbar nach Ihrem Weggang aufgeflogen. Wo ist übrigens Gower?«

Pitt holte tief Luft und stürzte sich in die Geschichte, die er sich zurechtgelegt hatte. »In Frankreich, in Saint Malo.« Während er das sagte, achtete er möglichst unauffällig auf Austwicks Gesichtsausdruck und versuchte an dessen Augen und

Austwick sprach betont langsam, als wäge er jedes seiner Worte ab, und schien Pitt dabei ebenso aufmerksam zu mustern wie dieser ihn. Ob ihm womöglich Somerset Carlisles erstklassig geschnittenes Hemd oder dessen Krawatte mit den Bordeauxtönen aufgefallen war?

Pitt wiederholte genau, was – seinem damaligen Kenntnisstand nach – zu dem Zeitpunkt geschehen war, als er Narraway von der Notwendigkeit unterrichtet hatte, in Frankreich zu bleiben. Er hatte zu keinem Zeitpunkt schriftlich Bericht erstattet, weil er weder der Briefpost noch einem Telegramm Einzelheiten anvertrauen wollte. Eine solche Mitteilung wäre zu vielen Menschen zugänglich gewesen, und das hätte selbst dann gefährlich sein können, wenn er die Begriffe vorsichtig umschrieben hätte. Alles, was er inzwischen über Gower wusste, verschwieg er.

Austwick schien konzentriert zuzuhören. Seinem Gesichtsausdruck ließ sich nicht entnehmen, ob er die wirklichen Hintergründe kannte.

»Aha«, sagte er schließlich und trommelte auf der Tischplatte herum. »Sie haben also Gower in Frankreich gelassen, weil Sie hofften, dass es da noch etwas Lohnendes zu beobachten gibt?«

»Ja, Sir …« Es kostete ihn Mühe, das Wort »Sir« über die Lippen zu bringen. In ihm wuchs die Wut darüber, dass jener Mann dort an Narraways Schreibtisch auf dem Stuhl seines einstigen Vorgesetzten saß. War auch Austwick in dieser Partie nur eine Spielfigur – oder war er derjenige, der die Figuren führte?

»Halten Sie das für wahrscheinlich?«, fragte er Pitt. »Sie sagen, dass Ihnen nichts mehr aufgefallen ist, seit Sie die beiden Männer gesehen haben … wer war das noch mal? Meister und Linsky?«

»Ja. In Frobishers Haus herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, aber außer den beiden haben wir keinen der Gäste dort erkannt. Möglicherweise war es ein Zufall, dass Meister und Linsky da aufgetaucht sind, aber andererseits muss man bedenken, dass West brutal und offen ermordet worden ist und der Täter Zuflucht in dem Haus gesucht hat. Dafür muss es einen Grund geben.«

Austwick schien eine Weile darüber nachzudenken. Schließlich hob er den Kopf und sagte mit geschürzten Lippen: »Sie haben Recht. Bestimmt ist da etwas im Gange, und selbst wenn die Sache von Frankreich ausgeht, kann sie ohne weiteres mit der Planung von Gewalttaten hier im Lande zusammenhängen. Wir müssen auch an unsere Verbündeten denken und daran, welchen Einfluss es auf unsere Beziehungen zu ihnen hat, wenn wir es nicht fertigbringen, sie rechtzeitig auf solche Umtriebe hinzuweisen. Ich jedenfalls würde mich hintergangen fühlen, wenn unsere Verbündeten von einer Bedrohung unseres Landes Wind bekämen, ohne uns etwas darüber mitzuteilen.«