Sie musste unbedingt jemanden finden, der ihr helfen konnte, denn sofern sie allein auf sich gestellt blieb, konnte sie gleich aufgeben, nach London zurückkehren und Narraway sowie damit letzten Endes auch Pitt seinem Schicksal überlassen. Noch bevor sie in der Molesworth Street ankam und versuchte, Mrs Hogan die Situation zu erklären, was sich nicht
»Was?«, fragte McDaid ungläubig, als sie ihm im Herrenzimmer seines Hauses das Vorgefallene berichtete.
Sie saßen in gewaltigen Ledersesseln, und Charlotte nahm an, dass es in vornehmen Herrenklubs so aussah wie dort: holzgetäfelte Wände, abgewetzte bequeme Polstermöbel und Dekorationsgegenstände aus Messing – nur dass sie bei McDaid aus reinem Silber bestanden, keltische Unikate von unschätzbarem Wert.
»Es tut mir so leid.« Sie schluckte und versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen. Sie hatte geglaubt, sich beherrschen zu können, und merkte jetzt, dass sie weiter davon entfernt war, als sie angenommen hatte. »Wir haben Cormac O’Neil aufgesucht. Genau genommen hatte Victor gesagt, dass er allein hinfahren wolle, aber ich bin ihm ohne sein Wissen sozusagen auf den Fersen gefolgt …«
»Wollen Sie damit sagen, Sie haben eine Droschke gefunden, deren Kutscher imstande war, ihn im Dubliner Verkehr nicht aus den Augen zu verlieren?«, fragte McDaid mit gerunzelter Stirn.
»Das nicht. Ich wusste, wohin er wollte, weil ich gestern Abend selbst dort war …«
»Bei O’Neil?« Er machte ein ungläubiges Gesicht.
»Ja. Hören Sie mir bitte zu.« Ihre Stimme war unwillkürlich lauter geworden, und sie bemühte sich, sie zurückzunehmen. »Ich bin nur wenige Augenblicke nach Victor dort eingetroffen. Kaum dass er ins Haus getreten war, hat der Hund angefangen zu bellen – aber einen Schuss habe ich nicht gehört !«
»Natürlich hat der gebellt.« Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. »Das tut der bei jeder Gelegenheit, außer wenn
»Nicht die Zugehfrau?«, fragte sie rasch.
»Nein. Die hat vor dem Hund Angst.« Er sah sie aufmerksam und mit ernster Miene an. »Warum fragen Sie das – spielt es eine Rolle?«
Sie zögerte, weil sie nach wie vor nicht sicher war, wie weit sie ihm trauen durfte. Was sie zu sagen hatte, war das Einzige, womit sie Narraway helfen konnte. Vielleicht war es besser, dies Wissen für sich zu behalten.
»Möglicherweise nicht«, sagte sie und sah betont verwirrt drein. Dann teilte sie ihm so zusammenhängend, wie es ihr möglich war, mit, was geschehen war, ohne den Hund noch einmal zu erwähnen. Dabei achtete sie aufmerksam auf die Reaktionen in seinem Gesicht und versuchte die Empfindungen zu deuten, die sich darauf spiegelten, Glaube oder Ungläubigkeit, Verwirrung oder Verständnis, Triumph oder Niedergeschlagenheit.
Er hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. »Und die Polizei hält Narraway für den Täter? Warum in drei Teufels Namen hätte er Cormac erschießen sollen?«
»Um sich dafür zu rächen, dass dieser ihn in London unmöglich gemacht hat«, gab sie zurück. »Jedenfalls hat Talulla das gesagt. Es klingt ja auch irgendwie sinnvoll.«
»Und glauben Sie, dass das so abgelaufen ist?«, fragte er.
Beinahe hätte sie gesagt, dass sie das Gegenteil mit Sicherheit wisse, doch fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein, dass das ein Fehler sein könnte. »Eigentlich nicht«, sagte sie zurückhaltend. »Ich habe unmittelbar hinter ihm das Haus betreten und keinen Schuss gehört. Ganz davon abgesehen, glaube ich auch nicht, dass Victor so etwas tun würde. Es ergibt keinen Sinn.«
Jetzt war sie wütend. Sie spürte, wie der Zorn in ihr aufstieg, sich ihr Magen verkrampfte. Ihre Hände zitterten, während sie mit einer Stimme, die klang, als sei sie leicht beschwipst, sagte: »Damit haben Sie Recht. Aber Sie kennen Victor schon seit vielen Jahren. Hat er sich je wie ein Dummkopf aufgeführt?«
»Nein. Er hat so manches getan, was nicht unbedingt immer besonders anständig war, aber dumm war es nie«, gab er zu.
»Hat er je hitzköpfig oder gedankenlos gegen seine eigenen Interessen gehandelt?« Sie konnte es sich nicht vorstellen, nicht von dem Mann, den sie kannte. War er womöglich früher von dieser Art unbeherrschter Leidenschaftlichkeit gewesen? War seine übermäßige Selbstbeherrschung nichts als eine Maske? Sie fand den Gedanken sonderbar abwegig, hatte den Eindruck, als zerstöre sie damit einen Teil von ihm, den sie auf keinen Fall anders sehen wollte, als sie ihn bisher gesehen hatte.
McDaid stieß ein freudloses Lachen aus. »Nein. Er hat nie vergessen, wofür er sich eingesetzt hat. Er hätte sich unter keinen Umständen von etwas ablenken lassen, und wenn es noch so außergewöhnlich gewesen wäre. Warum fragen Sie?«
»Nun ja, sofern er wirklich geglaubt haben sollte, dass Cormac O’Neil die Sache in London eingefädelt und dafür gesorgt hat, dass man ihn der Unterschlagung bezichtigt, hätte er nie und nimmer gewollt, dass Cormac umkam«, gab sie zurück. »In dem Fall hätte er ihm ja nicht mehr sagen können,
»Ich verstehe«, unterbrach er sie. »Ich verstehe. Sie haben Recht. Victor würde eine Rache nie über den Versuch stellen, seine Position wiederzuerringen, zumal in diesem Fall die beste Rache darin bestehen würde, zu zeigen, dass man ihm Unrecht getan hatte.«
»Dann muss jemand anders Cormac umgebracht und dafür gesorgt haben, dass es so aussieht, als sei er der Täter«, schloss sie. »Damit hätten sich diese Leute an ihm gerächt.«
»Ja«, stimmte er zu. Seine Augen leuchteten, seine Hände waren vollständig entspannt.
»Wären Sie bereit, mir zu helfen, festzustellen, wer der Täter war?«, fragte sie.
Er beugte sich in seinem Klubsessel ein wenig vor. »Haben Sie denn bereits eine Vorstellung, wer das gewesen sein könnte?«
Ihre Gedanken jagten sich. Was sollte sie antworten, einen wie großen Teil der Wahrheit preisgeben? Würde er sie überhaupt unterstützen können, wenn sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagte?
»Ich habe mehrere Denkmodelle entwickelt, die aber alle keinen rechten Sinn ergeben«, wich sie aus. »Ich weiß zwar, wer Victor hasst, nicht aber, wer Cormac gehasst hat.«
Ein Ausdruck von Belustigung trat auf seine Züge und verschwand gleich wieder. Es sah aus, als verspotte er sich selbst.
»Ich nehme an, dass auch Sie es nicht wissen«, fuhr sie fort. »Sonst hätten Sie ihn wohl gewarnt. Aber vielleicht gibt es Dinge, die Sie im Rückblick besser einordnen können. Talulla ist Seans und Kates Tochter, die nach dem Tod ihrer Eltern außerhalb Dublins aufgezogen worden ist.« An seinem Blick sah sie sogleich, dass er das wusste.
»Ja, das arme Kind«, stimmte er zu.
»Das haben Sie Victor aber nicht gesagt, nicht wahr?« Es klang deutlicher wie ein Vorwurf, als sie beabsichtigt hatte.
Einen Augenblick lang senkte er den Blick, dann sah er sie wieder an. »Nein. Ich war der Ansicht, dass sie deswegen schon genug gelitten hat.«
»Ein weiteres Ihrer unschuldigen Zufallsopfer«, bemerkte sie in Anspielung auf das, was er während ihrer Kutschfahrt im Dunkeln gesagt hatte. Irgendetwas an dieser Äußerung hatte sie gestört, eine Resignation, die sie sich nicht zu eigen machen konnte. Alle Opfer gingen ihr nahe, allerdings führte ihr eigenes Land auch keinen Unabhängigkeitskampf, war nicht von einem fremden Volk besetzt, das teils Freund und teils Feind war.
»Ich fälle keine Urteile darüber, wer schuldig und wer schuldlos ist, Mrs Pitt, sondern entscheide lediglich, was nötig ist, und das auch nur dann, wenn mir keine Wahl bleibt.«
»Talulla war ein Kind.«
»Kinder werden erwachsen.«
Wusste oder erriet er, ob Talulla die Tat begangen hatte? Sie sah ihn unverwandt an und merkte, wie eine leise Angst sie dabei beschlich. Es erschreckte sie zu sehen, wie sehr er die Situation durchschaute und zugleich fähig war zu spotten. Doch dieser Spott, das erkannte sie jetzt, bezog sich nicht etwa auf ihn selbst, sondern galt ihr und ihrer Arglosigkeit. Offensichtlich war er ihr die ganze Zeit schon um einen Gedanken voraus gewesen. Sie hatte bereits zu viel gesagt, und ihm war klar, dass sie von Talullas Täterschaft überzeugt war.