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Lange dachte er an Jemima, ihren Stolz auf das von ihr gemeinsam mit ihrem Bruder Geleistete und daran, wie glücklich Daniel gewesen war. Schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit

Der nächste Tag im Büro brachte das Übliche, unter anderem Berichte aus Paris, die kaum beunruhigend klangen. Zwar hatte man eine gewisse Zunahme der Aktivität von Personen bemerkt, die der Sicherheitsdienst überwachte, ohne aber für den Fall, dass das etwas bedeutete, feststellen zu können, worum es dabei gehen mochte. Pitt tat mehr oder weniger das Gleiche, was er getan hätte, wenn Narraway da gewesen wäre und er seiner eigenen Arbeit nachgegangen wäre. Der Unterschied lag darin, dass er jetzt die Last der Verantwortung auf seinen Schultern spürte und selbst Entscheidungen treffen musste, statt sie nach oben weitergeben zu können. Jetzt kamen alle zu ihm, wenn es galt, Beschlüsse zu fassen. Männer, die zuvor mit ihm auf einer Stufe gestanden hatten, mussten ihm jetzt Bericht erstatten. Sie kamen nicht immer, um Rat zu suchen; oft brachten sie nur Einzelinformationen über Untergrundaktivitäten, aus denen er sich selbst ein Bild über möglichen Verrat und zu verhindernde Gewalttätigkeit machen musste. Es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er Mittel fand, die geeignet waren, die Sicherheit des Reiches und der Regierung zu gewährleisten sowie den Frieden und Wohlstand Großbritanniens zu wahren.

Schließlich gelang es ihm am Vormittag des folgenden Tages, mit Sir Gerald Croxdale einen Gesprächstermin zu vereinbaren. Zwar war er mit seiner Bemühung, das wahre Ausmaß des Verrats zu erkunden, noch keinen Schritt weitergekommen, konnte es aber auf keinen Fall länger hinausschieben, Croxdale von Gowers Tod und dessen näheren Umständen in

Am späten Nachmittag traf er, vom Hyde Park kommend, in Whitehall ein. Die Sonne wärmte noch, und die Luft war weich. Auf seinem Weg zu Croxdales Ministerium fuhren offene Kutschen mit Familienwappen auf dem Schlag an ihm vorüber. Die blank geputzten Messingbeschläge der Pferdegeschirre blitzten in der Sonne. In den Kutschen sah er Damen in Musselinkleidern, deren Ärmel im leichten Wind flatterten. Sie trugen breitrandige Hüte, die sie vor den Sonnenstrahlen schützen sollten.

Croxdales Lakai ließ ihn sogleich ein – offensichtlich hatte er genaue Instruktionen bekommen. Im Arbeitszimmer des Ministers musste Pitt nur ganz kurz warten.

Als Croxdale eintrat, schüttelte er Pitt die Hand. »Setzen Sie sich. Wie sieht es in Lisson Grove aus?«

Obwohl er Wärme in seine Stimme legte und beinahe zwanglos mit ihm sprach, merkte Pitt, dass er ihn aufmerksam musterte. Fast war es, als sei ihm bereits bewusst, dass ihm Pitt eine unangenehme Mitteilung zu machen hatte.

Pitt war dankbar für die Frage; sie ersparte es ihm, selbst eine passende Einleitung finden zu müssen.

»Ich hatte gehofft, Ihnen mehr sagen zu können, Sir«, begann er. »Aber die ganze Geschichte, in deren Verlauf West ermordet wurde und wir Wrexham nach Frankreich gefolgt sind, hat sich als weit ernsthafter erwiesen, als ich ursprünglich angenommen hatte.«

Croxdale runzelte die Brauen und richtete sich ein wenig auf. »In welcher Hinsicht? Haben Sie erfahren, was West Ihnen mitteilen wollte?«

»Nein, Sir, das nicht. Aber ich habe eine bestimmte Vorstellung davon, worum es dabei ging, und alles, was ich seit meiner

»Hören Sie auf, um den heißen Brei herumzureden, Mann«, knurrte Croxdale ungeduldig. »Sagen Sie offen, was los ist.«

Pitt holte tief Luft. Er musste das Risiko eingehen. »Es gibt mindestens einen Verräter in Lisson Grove …«

Croxdale erstarrte, sein Blick wurde hart. Mit einem Mal lag seine Rechte so starr auf dem Schreibtisch, als zwinge er sich mit aller Kraft, sie nicht zur Faust zu ballen.

»Ich vermute, dass Sie damit nicht Victor Narraway meinen«, sagte er gefasst.

Pitt traf eine weitere Entscheidung. »Ihn habe ich zu keinem Zeitpunkt für einen Verräter gehalten und tue das auch jetzt nicht, Sir. Ob er Opfer einer Fehleinschätzung geworden ist oder sich eine Nachlässigkeit hat zuschulden kommen lassen, weiß ich noch nicht. Aber so etwas widerfährt leider jedem von uns von Zeit zu Zeit.«

»Raus mit der Sprache!«, stieß Croxdale zwischen den Zähnen hervor. »Wenn es nicht Narraway ist, über den ich mir ein Urteil noch vorbehalte, wer dann?«

»Gower, Sir.«

»Gower?« Croxdale riss förmlich die Augen auf. »Haben Sie ›Gower‹ gesagt?«

»Ja, Sir.« Pitt spürte, wie Zorn in ihm emporstieg. Wie konnte Croxdale Narraway so leichthin für einen Verräter halten und so ungläubig aufnehmen, was Pitt ihm über Gower mitteilte? Was hatte Austwick ihm gesagt? Wie weit reichte dieses Geflecht von Verrat, und wie raffiniert war es angelegt? War Pitt in einer Situation vorgeprescht, in der ein klügerer und erfahrenerer Mann erst einmal vorsichtig das Gelände erkundet hätte? Aber dafür war keine Zeit. Narraway war von seinem Amt suspendiert und in Irland, und der Himmel

Nein, er konnte es sich weiß Gott nicht erlauben, bei der Suche nach Feinden vorsichtig das Gelände zu erkunden.

Croxdale sah ihn finster an. Sollte er ihm nur über den Mord an West berichten oder die ganze Geschichte, die ihn selbst wie einen Dummkopf dastehen ließ? Aber er war ja in der Tat ein Dummkopf gewesen. Er hatte Gower vertraut, ihn sogar recht gut leiden können. Die Erinnerung an die damalige Situation schmerzte nach wie vor. Er glaubte in diesem Augenblick die Seeluft von Saint Malo zu riechen, die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht zu spüren, Gowers Stimme und sein Lachen zu hören.

»Ein bestimmter Vorfall in Frankreich hat mir klargemacht, dass es nur den Anschein hatte, als hätten Gower und ich gemeinsam die Stelle erreicht, an der wir Wrexham über Wests Leiche gebeugt vorgefunden haben«, sagte er. »In Wahrheit war Gower wenige Augenblicke zuvor dort gewesen und hatte West selbst umgebracht …«

»Das ist doch grotesk!«, explodierte Croxdale und fuhr von seinem Sessel auf. »Sie können nicht erwarten, dass ich Ihnen das abnehme! Wieso haben Sie nicht …« Er setzte sich wieder und versuchte mit Mühe, seine Fassung wiederzugewinnen. »Tut mir leid. Das ist für mich ein ziemlicher Schock. Ich … ich kenne Gowers Angehörige. Sind Sie Ihrer Sache sicher? Das kommt mir alles ein wenig … fadenscheinig vor.«

»Ja, Sir. Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass ich meiner Sache sicher bin.« Pitt konnte sich vorstellen, dass Croxdale das hart traf. »Ich habe ihn unter einem Vorwand in Frankreich gelassen und bin allein zurückgekehrt …«

»Sie haben ihn dagelassen?« Wieder war Croxdale verblüfft.

»Es gab für mich keine Möglichkeit, ihn festzunehmen«, gab Pitt zu bedenken. »Ich war unbewaffnet, und er ist jung und sehr kräftig. Auf keinen Fall wollte ich, dass die französischen Behörden erfuhren, wer wir waren und dass wir dort ohne ihr Wissen und ihre Genehmigung französische Staatsbürger überwachten …«

»Natürlich, das verstehe ich. Sprechen Sie weiter.« Croxdale war ganz offensichtlich tief erschüttert. In einer anders gelagerten Situation hätte Pitt wohl Mitgefühl für ihn aufgebracht.

»Ich habe ihn aufgefordert, dazubleiben und Wrexham sowie Frobisher im Auge zu behalten …«

» Wer ist Frobisher?«, wollte Croxdale wissen.

Pitt teilte ihm mit, was er über den Mann wusste, wie auch über die anderen, die sie in dessen Haus hatten ein und aus gehen sehen.

Croxdale nickte. »Dann war also durchaus etwas an dem Verdacht, dass sich dort Sozialisten treffen und eventuell etwas aushecken?«

»Möglicherweise. Bisher haben wir aber keine Bestätigung dafür.«