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»Und Gower ist dort geblieben?«

»Das hatte ich angenommen. Aber im Zug von Southampton nach London bin ich zweimal angegriffen und dabei fast getötet worden.«

»Großer Gott, von wem denn?«, fragte Croxdale mit allen Anzeichen des Entsetzens.

» Von Gower, Sir. Beim ersten Mal ist ein mutiger Mann dazwischengetreten, den ich nicht kannte, und hat mit seinem Leben dafür bezahlt, dass er mich retten wollte. Dann hat mich Gower erneut angegriffen, diesmal aber war ich darauf gefasst, und er hat die Partie verloren.«

Croxdale fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Und wie ist es weitergegangen?«

»Er ist auf den Bahndamm gestürzt«, gab Pitt zur Antwort. Bei dieser Erinnerung bildete sich ein Kloß in seiner Kehle, und der Schweiß brach ihm erneut aus. Er beschloss, nichts von seiner Festnahme zu sagen, um nicht erklären zu müssen, auf welche Weise ihn Lady Vespasia befreit hatte. Er wollte sie unbedingt aus der Geschichte heraushalten.

»Er ist … umgekommen?«, fragte Croxdale.

»Bei der hohen Geschwindigkeit des Zuges kann daran kein Zweifel bestehen, Sir.«

Croxdale lehnte sich wieder zurück. »Wie ganz und gar entsetzlich.« Er stieß langsam den Atem aus. »Offensichtlich haben Sie Recht. Wir hatten einen Verräter in Lisson Grove. Ich bin sehr erleichtert, dass nicht Sie auf dem Bahndamm gelandet sind, sondern er. Warum nur haben Sie mir das nicht gleich nach Ihrer Rückkehr mitgeteilt?«

» Weil ich vorher zu erfahren hoffte, wer Gowers Hintermann war.«

Croxdales Gesicht wurde kreidebleich. »Sie meinen, er hatte einen Hintermann?«, fragte er stockend.

»Ich bin da noch nicht sicher«, gab Pitt zu. »Bisher habe ich nicht herausfinden können, ob Frobisher hinter einem neuen sozialistischen Aufstand steckt, der möglicherweise bald droht, oder lediglich als Sympathisant am Rande der eigentlichen Verschwörung mitläuft.«

» Wir schätzen die Sache keinesfalls als belanglos ein«, sagte Croxdale rasch. »Falls Gower … Ich kann das immer noch nicht fassen … aber falls Gower zwei Menschen getötet und auch Ihnen nach dem Leben getrachtet hat, müssen wir diese Gefahr durchaus ernst nehmen.« Er biss sich auf die Lippe. »Ihren Worten entnehme ich, dass Sie Austwick von all dem nichts gesagt haben.«

»So ist es. Meiner festen Überzeugung nach hat jemand Narraway nur eine Unterschlagung unterstellt, um ihn aus

» Wer könnte das sein? Besteht da eine Beziehung zu diesem Frobisher, oder steckt erneut Gower dahinter?«

»Nein, Sir. Keiner der beiden hätte das bewerkstelligen können«, gab Pitt zu bedenken. »Es muss jemand in Lisson Grove sein, dessen Vollmachten es ihm ermöglichten, Einblick in Narraways Bankgeschäfte zu nehmen.«

Croxdale sah ihn mit gequältem Gesicht an. Seine Wangen waren gerötet. »Ich verstehe. Natürlich haben Sie Recht. Wenn die Dinge so liegen, muss diese sozialistische Verschwörung ziemlich weit verzweigt sein. Vielleicht ist jener Frobisher doch so gefährlich, wie Sie zuerst angenommen haben, und man hat den armen West umgebracht, um zu verhindern, dass Sie die Zusammenhänge durchschauten. Zweifellos hat Gower Sie nach Frankreich gelockt, damit Sie zu dem Ergebnis kamen, Frobisher sei harmlos, und diese falsche Information nach London weitergaben.« Einen Augenblick lächelte er trübselig. »Gott sei Dank waren Sie klug genug, das Ganze zu durchschauen, und flink genug, den Angriff auf Sie zu überleben. Sie sind der richtige Mann für die Aufgabe, Pitt. Welchen Dreck Narraway auch immer am Stecken haben mag – damit, dass er Sie in den Sicherheitsdienst eingestellt hat, hat er Weitblick bewiesen.«

Pitt nahm an, er müsse ihm für das Kompliment wie das damit ausgesprochene Vertrauen danken, hatte aber eher das Bedürfnis zu sagen, wie wenig er sich für die Aufgabe eignete. Schließlich neigte er den Kopf, dankte ihm kurz und kam auf die drängenden Aufgaben der Gegenwart zu sprechen.

» Wir müssen unbedingt feststellen, Sir, welche Informationen Gower möglicherweise aus Frankreich nach London geschickt

»Da haben Sie Recht«, sagte Croxdale nachdenklich und lehnte sich erneut zurück. »Mir geht es genauso. Wir müssen die Sache noch viel genauer unter die Lupe nehmen. Austwick hat mir seit Narraways Suspendierung mindestens dreimal Bericht erstattet. Ich habe die Unterlagen hier. Wir werden alles darin Enthaltene genauestens durchgehen, und Sie sagen mir, was davon stimmt und was nicht, um, wo es nötig ist, noch einmal nachzufassen. Dabei dürfte sich dann ja wohl ein Bild ergeben. Es tut mir sehr leid, aber möglicherweise kann das die halbe Nacht in Anspruch nehmen. Ich werde dafür sogen, dass man uns etwas zu essen holt.« Er schüttelte den Kopf. »Großer Gott, was für eine verfahrene Geschichte.«

Pitt hatte keine Möglichkeit, Einwände zu erheben.

Croxdale hatte nicht nur die Berichte Austwicks im Hause, sondern auch weiter zurückliegende von Narraway. Es kam Pitt merkwürdig vor, die verschiedenen Papiere durchzugehen. Ihm fiel auf, dass Austwicks Berichte wortreich und in einer ordentlichen Handschrift sauber präsentiert waren. Beim Anblick der von Narraway vorgelegten Berichte durchfuhr ihn die Vertrautheit wie ein Stich, und er spürte erneut, wie einsam er sich auf dessen Posten und ohne ihn fühlte. Narraways Schrift war kleiner und fließender als die Austwicks, wie beiläufig hingeworfen, und vor allem machte er weniger Worte als dieser. An keiner Stelle ließ sich das geringste Zögern erkennen. Er hatte sich genau überlegt, was er schreiben wollte, bevor er die Feder aufs Papier setzte, und nicht einmal ansatzweise den Versuch unternommen zu verbergen, dass er Croxdale nur das Allernötigste mitteilte. Beruhte das auf einer Absprache zwischen den beiden, besaß Croxdale die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen? Oder hatte Narraway damit

Pitt musterte Croxdales Gesicht aufmerksam, fand aber dort keine Antwort auf diese Fragen.

Sie gingen alle Berichte sorgfältig durch. Ein Diener brachte ein Tablett mit Toast und Leberpastete sowie Käse und einen Früchtekuchen zusammen mit Brandy, den Pitt aber ebenso höflich wie entschieden ablehnte.

Inzwischen war es draußen vollständig dunkel geworden. Ein leichter Wind hatte sich erhoben und trieb Regentropfen gegen die Scheiben.

Croxdale legte das letzte Blatt zurück. »Offensichtlich war Narraway überzeugt, dass hinter der Sache in Paris zwar etwas steckte, hielt es aber nicht für bedeutend genug, um gleich dagegen vorzugehen. Austwick hingegen sieht darin nichts weiter als Lärm und Großtuerei. Im Unterschied zu Narraway ist er überzeugt, dass uns das hier in England nicht betrifft. Was meinen Sie, Pitt?«

Diese Frage, von der ihm klar gewesen war, dass sie unausweichlich kommen würde, hatte Pitt gefürchtet. Hier gab es keine Möglichkeit, Ausflüchte zu machen, ganz gleich, wie leicht sich diese rechtfertigen ließen. So oder so würde man ihn danach beurteilen, wie zutreffend seine Einschätzung der Lage war. Er hatte ganze Nächte hindurch wachgelegen und alles erwogen, was er wusste, in der Hoffnung, von Croxdale etwas zu erfahren, was die Waage in die eine oder andere Richtung ausschlagen ließ.

Mit kaum wahrnehmbarem Zögern erklärte er: »Ich denke, dass Narraway unmittelbar davorstand, etwas ganz Entscheidendes in Erfahrung zu bringen, und man ihn aus dem Weg geräumt hat, bevor er eine Möglichkeit dazu hatte.«

Croxdale wartete lange mit seiner Antwort. »Ist Ihnen klar, was Sie damit sagen? Für den Fall, dass Sie damit Recht haben,

»Ja, Sir, ich fürchte, so verhält es sich in der Tat«, stimmte Pitt zu. »Gower hat jemandem Berichte geliefert, also muss zumindest ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes ein Verräter sein.«

»Ich arbeite seit Jahren mit Charles Austwick zusammen«, sagte Croxdale leise. »Aber vielleicht kennt man einen Menschen nicht immer so gut, wie man annimmt.« Er seufzte. »Ich habe nach Stoker geschickt. Soweit ich weiß, müsste er heute aus Irland zurückgekehrt sein. Vielleicht kann er etwas Licht auf die Angelegenheit werfen. Vertrauen Sie ihm?«