»Du bist nicht um diese frühe Stunde gekommen, um dir von mir eine Empfehlung für ein neues Mädchen zu holen«, sagte sie. » Was gibt es, Thomas? Du siehst richtig bedrückt aus. Ich vermute, dass sich etwas Neues ergeben hat.«
Er berichtete ihr alles, was seit ihrer letzten Begegnung geschehen war, und teilte ihr auch mit, wie enttäuscht und entsetzt er von Stokers plötzlichem Treubruch war. Ebenso wenig verschwieg er ihr die von diesem berichteten Einzelheiten über Narraways angebliches Verhalten.
»Es kommt mir vor, als wäre ich ganz und gar unfähig, den Charakter anderer Menschen zu beurteilen«, sagte er niedergeschlagen und so wenig selbstironisch, dass er fürchtete, es klänge nach Selbstmitleid.
Sie hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als sie ihm eine zweite Tasse Tee eingoss, verzog sie das Gesicht, weil sie merkte, dass er kalt war.
»Das macht nichts«, sagte er rasch. »Ich brauche keinen mehr.«
»Führen wir uns doch einmal ein Gesamtbild der Situation vor Augen«, sagte sie. »Unbestreitbar hast du dich in Bezug auf Gower geirrt. Da es aber allen anderen in Lisson Grove, einschließlich Victor Narraway, ebenso ergangen ist, macht dich das keineswegs zu einem Versager, mein Lieber. Wenn man bedenkt, dass er dein Mitarbeiter war, hattest du allen Grund, von ihm Loyalität zu erwarten. Damals war es nicht deine Aufgabe, Mitarbeiter zu beurteilen und Entscheidungen dieser Art zu treffen – jetzt hingegen schon.«
»Ich habe mich auch in Bezug auf Stoker geirrt«, gab er zu bedenken.
»Möglich. Aber wir sollten keine übereilten Schlüsse ziehen. Das Einzige, was du weißt, ist, dass sein Bericht an Croxdale
»Ja … natürlich. Allerdings wüsste ich gern, ob es ihr gutgeht. « Das war eine Untertreibung, deren Ausmaß wohl niemand besser erfassen konnte als Lady Vespasia.
»Hast du Croxdale gesagt, dass du Austwick verdächtigst?«, fragte sie.
»Nein.« Er erklärte ihr, dass er zögerte, wem auch immer mehr zu vertrauen, als unbedingt nötig war. So hatte er manches für sich behalten, weil er fürchtete, dass Croxdale, der Austwick schon sehr lange kannte, diesem vielleicht mehr trauen würde als ihm.
»Das war sehr klug«, stimmte sie zu. »Und nimmt Croxdale an, dass in Frankreich etwas Schwerwiegendes geplant wird?«
»Er hat lediglich gesagt, dass wir die Sache im Auge behalten sollten«, gab er zurück. » Wie du weißt, hatte nur Gower angeblich Meister und Linsky gesehen. Die Leute haben geredet, aber nicht mehr als sonst. Man hat gerüchtweise gehört, Jean Jaurès werde aus Paris kommen. Das aber hat sich nicht bewahrheitet.«
Lady Vespasia runzelte die Brauen. »Und wer hat gesagt, dass Jean Jaurès kommen würde?«
»Ich glaube, einer der Gastwirte am Ort. Die Männer in der Wirtsstube haben sich darüber unterhalten.«
»Du glaubst? Jemand nennt den Namen Jaurès, und du weißt es nicht?«, sagte sie ungläubig.
Erneut war er von seiner eigenen Torheit überrascht. Wie leicht man ihn hinters Licht führen konnte! Er hatte das nicht selbst gehört, Gower hatte es ihm berichtet. Das teilte er ihr mit.
»Hat er auch Rosa Luxemburg erwähnt?«, fragte sie mit leicht gehobenen Brauen.
»Ja, aber nicht im Zusammenhang mit Saint Malo.«
»Aber ihren Namen hat er genannt?«
»Ja. Warum?«
»Jean Jaurès ist eingefleischter Sozialist, aber ein durchaus umgänglicher und gebildeter Mensch«, erklärte sie. »Er hat sich für Reformen eingesetzt und in seinem Land hohe Ämter bekleidet. Er strebt Veränderungen an, aber keinen Umsturz. Soweit mir bekannt ist, beschränkt er sich mit all seinen Bemühungen auf Frankreich. Bei Rosa Luxemburg sieht die Sache gänzlich anders aus. Sie ist polnischer Herkunft und hat eine internationale Sichtweise. Russische Emigranten, mit denen ich bekannt bin, fürchten, dass sie eines Tages zu Gewalttaten aufrufen wird, und ich habe Sorge, dass etwas in der Art an manchen Orten unmittelbar bevorsteht. Die Unterdrückung in Russland wird zweifellos in einer Tragödie enden.«
»Und könnte sich das auch hier bei uns auswirken?«, fragte er zweifelnd.
»Nein. Doch freilich ist die Welt mitunter kleiner, als wir wahrhaben wollen. Natürlich wird es Flüchtlinge geben. Genau genommen ist London bereits voll von ihnen.«
»Was wohl Gowers Triebfeder gewesen sein mag?«, fuhr er fort. »Warum hat er West umgebracht? Womöglich, weil West mir mitteilen wollte, dass Gower ein Verräter war?«
»Das scheint möglich. Andererseits muss ich zugeben, dass mir nichts von all dem einen rechten Sinn zu ergeben scheint, es sei denn, dahinter steckt sehr viel mehr als die eine oder andere Gesetzesänderung zugunsten der französischen Arbeiterschaft oder eine zunehmende gesellschaftliche Unruhe in Russland. Nichts von all dem ist neu, weshalb sich auch der Sicherheitsdienst darüber keine übermäßigen Sorgen macht.«
» Wäre doch Narraway hier«, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Ich weiß für diese Aufgabe einfach nicht genug. Croxdale hätte Austwick auf dem Posten belassen sollen. Oder weiß er womöglich, dass auch er ein Verräter ist?«
»Das scheint mir ohne weiteres denkbar.« Sie war nach wie vor tief in Gedanken versunken. »Für den Fall, dass Victor schuldlos ist, woran ich keine Sekunde zweifle, hat sich jemand einen ausgesprochen raffinierten Plan ausgedacht, um ihn wie dich von London fortzulocken. Warum kommen wir nur nicht dahinter, wer das war und was der Grund dafür war?«
Während Pitt durch die Gänge des Gebäudes in Lisson Grove seinem Büro entgegenstrebte, war ihm bewusst, dass ihn mehrere Männer aufmerksam und abwartend musterten – insbesondere Austwick.
»Guten Morgen«, sagte dieser unter Auslassung des »Sir«, das er bei Narraway hinzugefügt hätte.
»Guten Morgen, Austwick«, gab Pitt mit einer gewissen Schärfe in der Stimme zurück, ohne ihn anzusehen.
Schon als er die Tür zu seinem Dienstzimmer öffnete, hatte er das Empfinden, dass es nach wie vor das Büro Narraways war. Das lag nicht nur daran, dass er immer noch keine persönlichen Gegenstände dort hingeschafft hatte, weder Bilder noch Bücher, sondern ganz im Gegenteil dafür gesorgt hatte, dass Narraways Bilder wieder an den Wänden hingen, als warteten sie darauf, dass dieser in sein angestammtes Reich zurückkehrte. Sofern es dazu kam, würde sich Pitt aufrichtig freuen, und das keineswegs aus reiner Selbstlosigkeit. Liebend gern würde er ihm das Amt wieder überlassen, das er jetzt unwillig an seiner Stelle verwaltete. Es entsprach weder seinem Wesen noch seinen Fähigkeiten, wohingegen er genau wusste, dass Narraway es nicht nur ausfüllte, sondern es geradezu sein Leben war.
Er erledigte die dringendsten Aufgaben zuerst und gab alles, was er nicht selbst zu bearbeiten brauchte, an untergeordnete Mitarbeiter weiter. Nachdem er erklärt hatte, er wolle nicht gestört werden, ging er gründlich alle Unterlagen Narraways über sämtliche Fälle durch, an denen Gower in den letzten acht Monaten mitgewirkt hatte. Er las alle Dokumente und gewann dabei einen gewissen Überblick über die verschiedenen in anderen europäischen Ländern beobachteten Bestrebungen, das Los der Arbeiterschaft zu verbessern. Außerdem las er den neuesten Bericht über die Situation in Paris.
Die darin dargelegten Pläne zu gewalttätigen Ausschreitungen bedrückten ihn, doch zugleich empfand er tiefes Mitgefühl angesichts das Ausmaßes an gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, das darin erkennbar wurde. Es bekümmerte ihn, dass man die Menschen dort unterdrückte und ihnen die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen, so lange vorenthielt, bis der Vollzug des gesellschaftlichen Wandels eines Tages von einem unmäßig großen Hass begleitet sein würde.
Je weiter er las, desto tragischer erschien es ihm, dass die von hohem Idealismus getragene Revolution des Jahres 1848 einfach niedergeschlagen worden war und diese so gut wie keinen Wandel bewirkt hatte.