Gowers Berichte waren knapp gehalten, so, als habe er bewusst alle Begriffe daraus entfernt, die auf Gefühle schließen lassen konnten. Anfangs hatte Pitt angenommen, es handele sich dabei einfach um einen besonders klaren Stil, doch dann begann er sich zu fragen, ob nicht mehr dahintersteckte. Vielleicht hatte Gower verhindern wollen, dass man durchschaute, was er dachte, dass Narraway irgendwelche Verbindungen oder Auslassungen erkannte oder dass es nicht echt klang.
Als Nächstes nahm Pitt Narraways eigene Unterlagen zur Hand. Die meisten hatte er früher schon einmal gelesen, und mit einigen der Fälle war er ohnehin vertraut, da innerhalb
Welche Tatsachen waren ihm persönlich bekannt? Gower hatte West getötet und Wrexham als Täter bezeichnet. War das eine aus dem Augenblick geborene Entscheidung gewesen, oder hatte er von vornherein die Absicht gehabt und Wrexham in seinen Plan eingeweiht und mit einbezogen? Pitt musste an die Verfolgung durch halb London denken und wie ihn Gower bis Southampton und schließlich nach Saint Malo gelockt hatte. Erneut wurde ihm klar, dass alles viel zu einfach gewesen war. Immer dann, wenn es so ausgesehen hatte, als sei ihnen Wrexham entkommen, war Gower, und nicht Pitt, erneut auf die Fährte gestoßen. Das legte die unausweichliche Schlussfolgerung nahe, dass Gower und Wrexham Hand in Hand gearbeitet hatten. Im Rückblick ergab das Ganze nur dann einen Sinn, wenn es ihre Absicht gewesen war, Pitt in Saint Malo festzuhalten – oder genauer gesagt, ihn von London fernzuhalten. Daraus ließ sich folgern, dass sie genau wussten, welch übles Spiel man in Bezug auf Narraway plante.
Doch was steckte dahinter? Hatte es mit bevorstehenden sozialistischen Aufständen zu tun, oder war auch das nur vorgetäuscht ?
Wer war Wrexham eigentlich? Er wurde in Gowers Berichten zweimal kurz als junger Mann aus achtbarer Familie erwähnt, der sein Studium der Neueren Geschichte abgebrochen hatte, um durch Europa zu reisen. Gower hatte die Vermutung
Je mehr sich Pitt mit dem vorliegenden Material beschäftigte, desto mehr nahm seine Überzeugung zu, dass sich hinter den bisher entdeckten Einzelhandlungen ein größerer Plan verbarg. Keine dieser Einzelheiten rechtfertigte einen Mord, auch nicht in der Summe. Es musste um eine wichtige Sache gehen – aber welche?
Am dringendsten schien ihm die Frage, ob man Narraway mit so großem Aufwand des Diebstahls bezichtigt hatte, um sich an ihm für etwas zu rächen. Oder ob die eigentliche Absicht dahinter gewesen war, zu erreichen, dass er aus seinem Amt entlassen wurde und aus England verschwand. Je länger sich Pitt mit dieser Frage beschäftigte, desto ausgeprägter wurde seine Überzeugung, dass Letzteres der Fall war.
Was hätte Narraway an seiner Stelle den Informationen entnommen? Sicher hätte er das Muster erkannt, das sich dahinter verbarg. Warum konnte Pitt es nicht erkennen? Was entging ihm?
Während er Ereignisse miteinander verglich und nach Querverbindungen und Gemeinsamkeiten suchte, klopfte es an die Tür, obwohl er ausdrücklich darum gebeten hatte, ihn nicht zu stören. Sofern der Mann, wer auch immer es war, nichts wirklich Wichtiges zu melden hatte, würde er ihn dafür büßen lassen.
»Herein«, sagte er schroff.
Die Tür öffnete sich, Stoker trat ein und schloss sie wieder hinter sich.
Pitt sah ihn kalt an.
Ohne sich davon beeindrucken zu lassen, begann Stoker: »Ich wollte gestern Abend noch mit Ihnen sprechen. Ich habe Ihre Gattin in Dublin gesehen. Es ging ihr gut, und Mr Narraway kann von Glück sagen, dass sich eine so mutige Frau für ihn einsetzt, obwohl ich sicher bin, dass sie es nicht um seinetwillen tut.«
Pitt sah ihn aufmerksam an. Der Mann wirkte gänzlich anders als am Vorabend in Croxdales Gegenwart. Worin bestand der Unterschied? Im Respekt, der Loyalität, steckten persönliche Empfindungen dahinter? Oder war es der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge?
»Haben Sie auch Mr Narraway gesehen?«, fragte Pitt.
»Ja, aber ich habe nicht mit ihm gesprochen. Es war der Tag, an dem O’Neil erschossen wurde.«
» Von wem?«
»Das weiß ich nicht. Ich vermute, dass eine gewisse Talulla Lawless die Täterin ist, weiß aber nicht, ob man das je wird beweisen können. Mr Narraway ist in Schwierigkeiten, Mr Pitt. Er hat mächtige Feinde …«
»Das ist mir bekannt«, fiel ihm Pitt ins Wort. » Wie es scheint, aus der Zeit vor zwanzig Jahren.«
»Die meine ich nicht«, sagte Stoker eindringlich. »Jetzt, hier in Lisson Grove. Derjenige, der ihn in Verruf bringen und aus dem Land haben wollte, hat auch dafür gesorgt, dass man Sie nach Frankreich lockte, in die andere Richtung, damit Sie nicht mitbekamen, was hier gespielt wurde, und Mr Narraway nicht helfen konnten.«
»Sagen Sie mir alles, was Sie über die Vorfälle in Irland wissen«, verlangte Pitt. »Und setzen Sie sich!« Ihm lag weniger an Einzelinformationen als an der Möglichkeit, abzuwägen, was
Stoker kam der Aufforderung nach, ohne sich weiter darüber zu äußern. Vermutlich hatte er begriffen, worum es Pitt ging, doch war seinen Zügen nichts anzumerken.
»Ich war nur zwei Tage da«, begann er.
» Wer hat Sie geschickt?«, unterbrach ihn Pitt.
»Niemand. Ich habe es so hingestellt, als hätte mir Mr Narraway vor seiner Abreise den Auftrag dazu erteilt.«
»Warum?«
» Weil ich ihn ebenso wenig für schuldig halte wie Sie«, sagte Stoker voll Bitterkeit. »Auch wenn er manchmal kühl und schroff wirkt, würde er nie sein Land verraten. Man hat ihn aus dem Weg geräumt, weil den Leuten bewusst war, dass Mr Narraway sofort durchschauen würde, was hier gespielt wird, und dann wäre damit schon bald Schluss gewesen. Dieselben Leute waren überzeugt, dass auch Sie ihnen in die Quere kommen würden, auch wenn Sie ihre Machenschaften vielleicht nicht durchschauen würden. Ich will Sie damit nicht kränken, Sir, aber Sie wissen noch nicht genug, um zu erkennen, worum es geht.«
Pitt zuckte zusammen, konnte aber nichts dagegen einwenden. Der Mann hatte nur allzu Recht, so sehr es Pitt schmerzte, sich das einzugestehen.
»Ich hatte den Eindruck, dass Mr Narraway in Dublin zu ermitteln versucht hat, wer dafür gesorgt hat, dass es aussah, als habe er das für Mulhare vorgesehene Geld an sich gebracht. Wahrscheinlich, um auf die Weise allmählich dahinterzukommen, wer hier in London die ganze Sache eingefädelt hat«, fuhr Stoker fort. »Ich weiß nicht, ob ihm das gelungen ist, auf jeden Fall hat man ihm mit dem Mord an O’Neil eine üble Falle gestellt. Das Ganze muss glänzend vorbereitet gewesen
Ihre Gattin war dicht hinter ihm, aber er hat vor der Polizei geschworen, dass sie mit der Sache nichts zu tun hatte, damit man sie in Ruhe ließ. Sie ist dann in ihre Pension zurückgekehrt. Mehr weiß ich nicht über sie. Man hat Mr Narraway festgenommen. Bestimmt wird man ihn unter Anklage stellen und hängen, wenn wir nichts unternehmen. Bis dahin bleibt uns aber sicher noch eine gute Woche Zeit.« Er sah Pitt fragend an.
Die Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen, lastete wie ein bleierner Mantel auf Pitts Schultern. An niemanden konnte er sich wenden, niemandes Meinung dazu einholen und gegen seine eigene abwägen. Wer immer es so eingerichtet hatte, dass er, und nicht Narraway, diese Entscheidung zu treffen hatte, musste ungeheuer gerissen sein.
Er entschloss sich, Stoker zu trauen. Der Vorteil, den das versprach, war größer als das Risiko, das er damit einging.
»Das heißt, uns stehen vielleicht zehn Tage zur Verfügung, um Narraway zu retten«, gab er zurück. » Vermutlich ist das den Leuten, die hinter der ganzen Sache stehen, ebenso bewusst wie uns. Also dürfen wir annehmen, dass sie bis dahin das Vorhaben beendet haben, um dessentwillen sie ihn aus dem Weg haben wollten.«
Stoker richtete sich ein wenig auf. »Ja, Sir.«
»Und wir haben keine Vorstellung davon, wer diese Leute sind«, fuhr Pitt fort. »Außer dass sie hier in der Abteilung ein hohes Maß an Macht und Einfluss haben, so dass wir niemandem trauen können. Selbst Sir Gerald scheint diesen Menschen mehr zu trauen als Ihnen oder mir.«