Was hätte Cormac O’Neil Talullas Ansicht nach unternehmen können, um ihren Vater, Sean O’Neil, vor dem Galgen
Aber selbstverständlich würde Talulla das nicht so sehen, weil sie es sich nicht leisten konnte. Sie brauchte ihre Wut, und die ließ sich nur rechtfertigen, wenn sie ihre Eltern als Opfer ansah.
Und Fiachra McDaid? Narraway hätte sich wegen seiner Blindheit ohrfeigen können. Wie falsch er den Mann doch eingeschätzt hatte, der seinen leidenschaftlichen irischen Nationalismus hinter seinem Eintreten für die Entrechteten aller Völker verborgen hatte. Je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm alles. Wie sonderbar, dass hinter einer vorgeschobenen allumfassenden Liebe häufig die Bereitschaft stand, ungerührt einen, zehn oder zwei Dutzend Menschen zu opfern! Fiachra McDaid schien ausschließlich die Vorzüge zu sehen, die mit einer größeren gesellschaftlichen Gerechtigkeit und der Unabhängigkeit Irlands einhergingen – um welchen Preis das Land sie errang, interessierte ihn offenbar nicht. Er war ein Träumer, der offenen Auges über Leichen ging, ohne sie zu sehen. Hinter seinem charmanten Auftreten lag Eiseskälte. Narraway musste sich eingestehen, dass McDaid bemerkenswert raffiniert vorgegangen war. Dem Buchstaben des Gesetzes nach hatte er sich keine Straftat zuschulden kommen lassen, und sofern ihn der Arm der Justiz je erreichte, würde das aus einem anderen Grund geschehen.
Narraway sah erneut zu Charlotte hinüber. Als sie es merkte, wandte sie sich ihm zu.
»Weit und breit ist niemand zu sehen«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. »Ich glaube, wir sind in Sicherheit.«
Das Bewusstsein, dass sie sich in seine Flucht mit einschloss, erfüllte ihn mit einer inneren Wärme, von der ihm sogleich aufging, dass sie lächerlich war. Er führte sich auf wie ein Zwanzigjähriger.
»Jedenfalls bis jetzt«, stimmte er zu. »Aber wenn wir in Holyhead in den Zug steigen, wäre es besser für Sie, in einen anderen Waggon einzusteigen als ich. Auch wenn ich bezweifle, dass jemand nach mir Ausschau hält, aber unmöglich ist das nicht.«
»Wer denn?«, fragte sie, als verwerfe sie den Gedanken. »Niemand könnte vor uns dort ankommen.« Noch bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Und sagen Sie mir nicht, dass die Leute Ihre Flucht vorausgesehen haben. In dem Fall hätten sie Mittel und Wege gefunden, sie zu verhindern. Sehen Sie den Tatsachen ins Gesicht: Man wollte Sie da an den Galgen bringen, denn das wäre die vollkommene Rache für Seans Hinrichtung gewesen.«
Er zuckte zusammen. »Sie nehmen wirklich kein Blatt vor den Mund.«
»Fällt Ihnen das erst jetzt auf?«, fragte sie mit einem feinen Lächeln.
»Natürlich nicht. Aber diese Äußerung war sogar für Sie bemerkenswert.«
»Es ist ja auch eine bemerkenswerte Situation«, sagte sie. »Jedenfalls für mich. Finden Sie es aufdringlich, wenn ich Sie frage, ob Sie so etwas oft machen?«
»Charlotte!« Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar und wandte sich ab, um ihr seine Rührung nicht zu zeigen. Ihm war klar, dass es sie in Verlegenheit bringen
»Tut mir leid«, sagte sie rasch.
Verdammt, fluchte er innerlich. Er war nicht schnell genug gewesen.
»Ich weiß, dass die Sache ernst ist«, fuhr sie fort, womit sie offensichtlich etwas gänzlich anderes meinte.
Erleichterung überkam ihn und unsinnigerweise zugleich Enttäuschung. Wollte wirklich ein Teil seines Wesens, dass sie es erfuhr? Dann musste er es unbedingt unterdrücken, denn es würde zu einer schwierigen Situation zwischen ihnen führen, die keiner von beiden je würde vergessen können.
»Ja«, stimmte er zu.
»Werden Sie Ihr Büro in Lisson Grove aufsuchen?« Jetzt klang ihre Stimme besorgt.
»Nein. Es ist mir lieber, wenn die da nicht wissen, dass ich wieder in England bin, und erst recht nicht, wo.«
Er erkannte die Erleichterung auf ihrem Gesicht. »Es gibt nur einen Menschen, dem ich in jeder Hinsicht zu vertrauen wage, und das ist Vespasia Cumming-Gould. Ich werde eine oder zwei Stationen vor London aussteigen, um sie anzurufen. Wenn ich Glück habe, bekomme ich sie gleich an den Apparat. Andernfalls werde ich mich irgendwo einmieten und warten, bis ich mich mit ihr in Verbindung setzen kann.«
Seine Stimme wurde leise und eindringlich. »Und Sie sollten nach Hause gehen. Für Sie besteht keine Gefahr. Falls es Ihnen aber lieber ist, könnten Sie zu Vespasia gehen. Vielleicht ist es sogar besser, Sie hören sich erst einmal ihre Meinung an.« Während er das sagte, fiel ihm ein, dass er nicht das Geringste über Pitt wusste, nicht einmal, ob er in Sicherheit war. Möglicherweise war es grausam, Charlotte zurück in ein Haus zu schicken, in dem sich niemand außer einem ihr noch
»Ein guter Gedanke«, sagte Charlotte und drehte sich wieder um, weil sie den Möwen zusehen wollte, die über dem schäumenden Kielwasser des Schiffs kreisten. So standen sie beide schweigend nebeneinander, in die Betrachtung der endlosen rhythmischen Bewegung des Wassers und der weißen Schwingen der Vögel versunken.
Es war längst dunkel, als Narraway Vespasia endlich erreichte. Erst als er ihre Stimme hörte, die ein wenig verzerrt durch die Leitung kam, merkte er, wie groß seine Erleichterung war, mit ihr sprechen zu können.
»Victor! Wo um Himmels willen steckst du?«, wollte sie wissen, um sogleich hinzuzufügen: »Nein, sag es lieber nicht. Bist du in Sicherheit? Und Charlotte auch?«
»Ja, wir sind beide in Sicherheit«, antwortete er. Sie war seit seiner Kindheit die einzige Frau in seinem Leben, der gegenüber er sich je zur Rechenschaft verpflichtet gefühlt hatte. »Wir sind nicht weit von dir entfernt, aber es schien mir ratsam, erst mit dir zu sprechen, bevor wir den letzten Abschnitt der Reise zurücklegen.«
»Lasst das lieber sein«, gab sie zurück. »Es wäre weit besser, wenn ihr einen bestimmten Ort aufsuchtet, den wir nicht nennen wollen. Dort können wir uns treffen. Seit deiner Abreise ist viel geschehen, und es steht noch sehr viel mehr bevor.
»Wer leitet jetzt die Abteilung?«, erkundigte er sich. Obwohl er in einer sehr behaglichen Halle eines Hotels in der Nähe des Bahnhofs stand und immer wieder nach links und rechts blickte, um sich zu vergewissern, dass niemand mithören konnte, kroch ihm die Kälte in die Glieder. »Charles Austwick?«
»Nein«, antwortete sie. »Das war nur eine Zwischenlösung. Thomas ist aus Frankreich zurück. Seine Reise dorthin war völlig ergebnislos. Man hat Austwick durch ihn ersetzt. Er arbeitet jetzt in deinem Büro und ist todunglücklich.«
Einen Augenblick lang war Narraway so verblüfft, dass er keine Worte fand, jedenfalls keine, die sich für Lady Vespasias Ohren oder die Charlottes, wenn sie in der Nähe gewesen wäre, geeignet hätten.
»Victor?«, kam Vespasias Stimme.
»Ja … ich bin noch dran. Was … was wird da gespielt?«
»Das weiß ich nicht«, gab sie zu. »Aber ich fürchte sehr, dass man ihn mit dieser Aufgabe betraut hat, weil er der Ungeheuerlichkeit, die da offenbar geplant wird, auf keinen Fall gewachsen wäre. Er hat mit dieser Art von Führungsposition nicht die geringste Erfahrung, besitzt weder die Hinterhältigkeit noch die scharfe Urteilskraft, die nötig wären, um unumgängliche harte Entscheidungen zu treffen. Außerdem gibt es dort niemanden, dem er vertrauen könnte. Das zumindest ist ihm bewusst. Ich habe Grund zu befürchten, dass er dort entsetzlich allein ist. Das dürfte der Absicht desjenigen entsprechen, der diese Situation geschaffen hat …«
»Du willst damit sagen, dass man ihn als Verantwortlichen ausersehen hat, dem man die Schuld aufbürden kann, wenn der Sturm losbricht?«, sagte Narraway voll Bitterkeit.