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»Ganz genau.« Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Wir müssen dem unbedingt einen Riegel vorschieben, nur weiß ich nicht so recht, auf welche Weise. Mir ist nicht einmal bekannt, was die Leute planen, aber es muss etwas Unvorstellbares sein.«

Lady Vespasia war ein ganzes Stück älter als er und unbestreitbar tapfer. Niemand, den er kannte, hatte mehr Mut bewiesen als sie. Sie war klug und nach wie vor schön, doch allmählich wurde auch sie alt und war bisweilen sehr allein. Mit einem Mal begriff er ihre Verletzlichkeit, die darauf zurückging, dass sie neben zahlreichen Freunden auch jene Menschen verloren hatte, die sie einst leidenschaftlich geliebt hatte. Mit einem Mal sah er in ihr nicht mehr die Dame der Gesellschaft, die kraft ihrer Persönlichkeit in ihren Kreisen den Ton angab, sondern eine Frau, der die Einsamkeit ebenso wenig erspart geblieben war wie ihm.

»Erinnerst du dich noch an den Gasthof, wo wir vor etwa acht Jahren gemeinsam mit Somerset Carlisle einen köstlichen Hummer zu Mittag gegessen haben?«, fragte er.

»Ja«, kam ihre Antwort ohne das geringste Zögern.

»Dort sollten wir uns so bald wie möglich treffen«, sagte er. »Bring bitte Pitt mit …«

»Ich werde spätestens um Mitternacht da sein.«

»Du willst mit ihm mitten in der Nacht herkommen?«, fragte er verblüfft.

» Was sonst!«, sagte sie scharf. »Willst du etwa bis zum Frühstück warten? Sei nicht albern. Reserviere lieber drei Zimmer für den Fall, dass uns noch Zeit zum Schlafen bleibt.«

Die letzten Worte hatte sie in zögerndem Ton gesagt.

» Vespasia?«

Sie stieß einen leichten Seufzer aus. »Ich möchte dich nicht kränken, aber da ich vermute, dass du von … nun ja, von dort, wo du warst, geflohen bist, wirst du wohl nicht viel Geld haben und möglicherweise auch nicht in der gewohnt eleganten Garderobe auftreten. Daher dürfte es sich empfehlen, den Leuten meinen Namen zu nennen, so, als wenn du die Reservierung für mich vornähmest. Sag ihnen auch, dass ich gleich bei der Ankunft zahlen werde. Das ist sicher besser, als wenn du einen anderen Namen angibst – auf keinen Fall deinen oder den von Thomas.«

»Charlotte war so vorausblickend, in Dublin meinen Koffer zu packen, so dass ich alles an Kleidung habe, was ich brauche«, sagte er und war zum ersten Mal seit längerer Zeit belustigt.

» Wieso das?«, fragte Vespasia kühl.

»Sie musste die Pension verlassen, in der wir Quartier genommen hatten«, erläuterte er, nach wie vor lächelnd. »Da sie mein Gepäck nicht einfach dalassen wollte, hat sie es mitgenommen. Wenn du mich schon nicht besonders gut kennst, solltest du zumindest sie kennen!«

»Da hast du Recht«, gab sie in etwas freundlicherem Ton zurück. »Bitte entschuldige. Aber dich kenne ich natürlich ebenfalls. Ich werde so nahe an Mitternacht da sein, wie ich kann. Ich bin sehr froh zu hören, dass du in Sicherheit bist, Victor.«

Diese Worte bedeuteten ihm mehr, als er angenommen hatte. Da er erstaunt merkte, dass ihm darauf keine Antwort einfiel, hängte er den Hörer schweigend an den Haken.

Pitt hatte sich gerade an den Küchentisch gesetzt, um zu Abend zu essen, als Minnie Maude hereinkam. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen glänzten, und sie knetete die Hände.

»Was gibt es?«, fragte Pitt, der sich sogleich Sorgen machte.

Sie holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Da is Lady Vespasia Cumming-Gould für Sie, Sir. Was soll ich mit ihr mach’n, Sir?«

»Ach so«, sagte Pitt erleichtert. »Führen Sie sie herein, und setzen Sie den Wasserkessel noch einmal auf.«

Minnie Maude rührte sich nicht. »Nein, Sir, sie is’ doch ’ne wirkliche Dame, nich’ nur einfach ’ne nette Frau.«

»Selbstverständlich«, gab ihr Pitt Recht. »Aber sagen Sie ihr bitte, sie möchte in die Küche kommen. Sie war schon früher hier. Dann machen Sie ihr eine Tasse Tee. Wir haben Earl Grey im Haus, eigens für sie.«

Minnie Maude sah ihn an, als habe er den Verstand verloren.

»Bitte«, fügte er hinzu.

»Se entschuldig’n, Sir«, sagte Minnie Maude unsicher, »aber Se seh’n aus, wie wenn man Se durch ’ne Dorn’nhecke gezog’n hätte.«

Pitt fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Sie würde mich gar nicht erkennen, wenn ich anders aussähe. Lassen Sie sie doch nicht länger in der Diele stehen, und bringen Sie sie her.«

»Se is’ nich in der Diele, Sir, se is’ im Wohnzimmer«, teilte ihm Minnie Maude mit, offensichtlich entsetzt von seiner Vorstellung, sie könne solch hohen Besuch einfach in der Diele stehenlassen.

»Entschuldigen Sie. Natürlich. Bringen Sie sie trotzdem her.«

Sie gab sich geschlagen und gehorchte.

Als Pitt den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte und den Tisch abräumte, trat Lady Vespasia ein. »Mir hat es hier immer gefallen«, sagte sie. »Danke, Minnie Maude. Es tut mir leid, dich beim Abendessen zu stören, Thomas, aber es ließ sich nicht vermeiden.«

Hinter ihm eilte Minnie Maude zum Herd und setzte den Wasserkessel auf. Dann spülte sie die Kanne aus, in der sie den Tee für Pitt gemacht hatte, und bereitete alles für den Earl

Ohne Lady Vespasia zu unterbrechen, schob ihr Pitt einen der Küchenstühle hin und wollte ihr den Umhang abnehmen, doch sie wehrte ab.

»Ich habe einen Anruf von Victor Narraway bekommen«, sagte sie. » Von einem Hotel etwas außerhalb der Stadt aus. Charlotte ist bei ihm, und es geht ihr gut. Du brauchst dir also ihretwegen keine Sorgen zu machen. Wohl aber gibt es andere Dinge, die deine sofortige und vollständige Aufmerksamkeit erfordern.«

»Narraway?« Seine Gedanken jagten sich. Sie hatte sich so diskret wie möglich ausgedrückt, zweifellos im Bewusstsein, dass Minnie Maude jedes Wort hören konnte. Es wäre unnötig grausam gewesen oder möglicherweise sogar gefährlich, sie grundlos zu ängstigen. Das hatte sie nicht verdient, ganz von der praktischen Erwägung abgesehen, dass Pitt darauf angewiesen war, dass sie sich mit ihrem Alltagsverstand um den Haushalt und vor allem um die Kinder kümmerte – zumindest bis zu Charlottes Rückkehr. Er musste sich eingestehen, dass er die junge Frau zu schätzen gelernt hatte. Sie war umgänglich, hatte einen wachen Geist und war voller Schwung, womit sie in gewisser Hinsicht Gracie ähnelte.

»Ja.« Lady Vespasia wandte sich Minnie Maude zu. »Wenn Sie den Tee gemacht haben, mein Kind, packen Sie bitte einen kleinen Koffer für den Hausherrn mit allem, was er für eine Übernachtung außer Haus braucht. Frische Wäsche, ein Hemd und Toilettenartikel. Wenn Sie fertig sind, bringen Sie ihn nach unten und stellen ihn in die Diele.«

Minnie Maudes Augen weiteten sich. Sie zwinkerte, als überlege sie, ob sie es wagen sollte, Pitt um eine Bestätigung zu bitten, oder einfach tun sollte, was die Dame gesagt hatte. Wer hatte in diesem Fall zu bestimmen?

Das arme Mädchen musste sich in so kurzer Zeit an so viel Neues gewöhnen. Er lächelte ihr beruhigend zu. »Tun Sie das bitte, Minnie Maude. Ich werde fort müssen, aber bald wiederkommen. «

»Es ist gut möglich, dass du eine ganze Zeit lang außerordentlich viel zu tun haben wirst«, berichtigte ihn Lady Vespasia. »Nur gut, dass du mit Minnie Maude eine so verantwortungsbewusste junge Frau im Hause hast. Du wirst sie brauchen. Jetzt wollen wir Tee trinken und dann aufbrechen.«

Sobald Minnie Maude den Tee eingegossen und den Raum verlassen hatte, wandte sich Pitt mit fragendem Blick an die Besucherin.

» Wir dürfen uns nicht länger der Erkenntnis verschließen, dass man sowohl dich als auch Victor aus einem ganz bestimmten Grund aus London fortgelockt hat«, sagte sie, nachdem sie einen ersten kleinen Schluck genommen hatte. »Victor hat man aus dem Amt gedrängt und den Versuch unternommen zu erreichen, dass er in Irland zumindest zeitweise im Gefängnis verschwindet, wenn man ihn nicht gar gehängt hätte. Dich hatte man schon vorher aus London fortgelockt, damit du, der Einzige in Lisson Grove, auf den er sich voll und ganz verlassen konnte und der den Mut aufgebracht hätte, für ihn einzutreten, nicht da warst, als man das Schurkenstück an ihm verübte. Auf diese Weise fehlte ihm jede Unterstützung. «