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Seinen Vorgesetzten Narraway hätte Pitt in einer vergleichbaren Situation unterbrochen, um nach dem Grund für das alles zu fragen, doch Lady Vespasia wagte er nicht ins Wort zu fallen.

»Allem Anschein nach ist Charles Austwick mit in die Sache verwickelt«, fuhr sie fort, »wir wissen aber noch nicht, in welchem Umfang und aus welchem Grund. Wohl aber ist uns bekannt, dass es hier um ein groß angelegtes gefährliches Unternehmen

»Ich weiß«, sagte er leise. »Ich denke, dass ich in Stoker einen Verbündeten habe, auf den ich mich verlassen kann. Allerdings dürfte er der Einzige sein, so weit ich das im Moment überblicken kann. Möglicherweise gibt es noch andere, aber ich habe keine Vorstellung, wer das sein könnte. Auf keinen Fall darf ich mir in dieser Hinsicht Fehler leisten, denn schon ein einziger würde sich vermutlich verhängnisvoll auswirken. Was ich nicht verstehe, ist, dass sich Austwick so gut wie gar nicht gegen seine Ablösung als Leiter der Abteilung aufgelehnt hat. Das gibt mir zu denken, denn es steht zu befürchten, dass eine ganze Reihe von Leuten jeden meiner Schritte kennt und ihm davon berichtet.«

Sie stellte ihre Tasse hin. »Das Ganze dürfte noch viel schändlicher sein, als du annimmst, mein Lieber«, sagte sie. »Meiner Vermutung nach wird das geplante Vorhaben äußerst weitreichende Folgen haben. Im Hinblick darauf hat man dich in Lisson Grove als Leiter eingesetzt – du bist als Sündenbock ausersehen, dem man die Schuld dafür aufbürden wird, dass der Sicherheitsdienst die Sache nicht verhindert hat. Danach kann man die Abteilung von Grund auf neu einrichten, ohne auf die erfahrenen Kräfte zurückzugreifen, die jetzt da sind. Auf diese Weise hätten die Hintermänner dieses Planes den Sicherheitsdienst vollständig in der Hand – wenn sie ihn nicht sogar mit der Begründung ganz auflösen, er habe zwar in der Vergangenheit seine Aufgabe erfüllt, sei aber jetzt offensichtlich nicht mehr nötig.«

Was Lady Vespasia ihm vortrug, war niederschmetternd. Nicht wegen seiner Verdienste hatte man ihn also befördert, sondern weil man ihn opfern wollte, wenn der Zeitpunkt gekommen war, dem Sicherheitsdienst vorzuwerfen, dass er versagt und die bevorstehende Katastrophe nicht verhindert hatte.

Auf Lady Vespasias Gesicht erkannte er tiefes Mitgefühl und freundschaftliches Verständnis.

Er zwang sich, ihr zuzulächeln. Er dachte nicht im Traum daran, in Selbstmitleid zu versinken, allein schon deshalb nicht, weil sie das in einer vergleichbaren Situation auch nicht getan hätte.

»Ich versuche zu überlegen, mit welcher Aufgabe ich mich beschäftigt hätte, wenn ich nicht nach Saint Malo gefahren wäre«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob mir der arme West tatsächlich etwas Wichtiges mitteilen wollte, beispielsweise, dass Gower ein Verräter war, oder ob man ihn lediglich umgebracht hat, um zu erreichen, dass ich Wrexham bis nach Frankreich verfolgte. Ich nehme Ersteres an, aber vielleicht irre ich mich da auch.«

»Wenn du hier gewesen wärest, hättest du möglicherweise verhindert, dass man Victor von seinem Amt suspendiert«, erklärte sie. »Andererseits ist denkbar, dass man mit dir ebenso verfahren wäre …« Sie verstummte.

Er zuckte die Achseln. »Wenn man mich nicht ganz aus dem Weg geräumt hätte.« Er sagte das, weil ihm klar war, dass sie das ebenfalls dachte. »Mich nach Frankreich zu locken war da eine deutlich bessere Lösung, die den zusätzlichen Vorteil hatte, kein Aufsehen zu erregen. Außerdem darf man nicht ausschließen, dass mich die Leute von Anfang an als denjenigen vorgesehen hatten, dem die Verantwortung für das Versagen der Abteilung in die Schuhe geschoben werden sollte. Ich

»Darüber werden wir uns unterwegs Gedanken machen«, sagte sie und trank ihren Tee aus. »Sicherlich wird Minnie Maude gleich mit deinem Koffer herunterkommen, dann können wir aufbrechen.«

Er stand auf und ging nach oben, um noch einmal nach den Kindern zu sehen, erteilte Minnie Maude letzte Anweisungen und gab ihr genug Geld, damit sie während seiner Abwesenheit die nötigen Besorgungen machen konnte. Dann nahm er seinen Koffer und ging hinaus zu Lady Vespasias Kutsche, die vor dem Haus wartete. Wenige Augenblicke darauf waren sie in der Nacht verschwunden.

»Ich bin bereits gemeinsam mit Stoker gründlich alles durchgegangen, was vor meinem Aufbruch nach Frankreich geschehen ist, außerdem Austwicks Aufzeichnungen über die Vorfälle seither«, begann er, »sowie die Berichte anderer. Dabei ist uns etwas aufgefallen, was mich sehr beunruhigt, obwohl ich es noch nicht verstehe.«

»Was?«, fragte sie rasch.

Er berichtete ihr von dem Gewalttäter, der in verschiedenen Teilen des Landes gesehen worden war. Sie erbleichte, als er die seit Jahren miteinander verfeindeten Männer erwähnte, die mit einem Mal am selben Strang zu ziehen schienen.

»Ganz offensichtlich ist diese Sache überaus ernsthaft«, stimmte sie zu. »Ich habe übrigens auch verschiedene Gerüchte gehört, während du außer Landes warst. Anfangs habe ich das als leeres Gerede abgetan, wie man es immer wieder von idealistischen Träumern hört. Beispielsweise hieß es, gewisse Gesellschaftsreformer hätten erklärt, sie würden bestimmte Vorhaben

Schweigend fuhren sie über Woburn Place in Richtung Euston Road, dann bog die Kutsche mit dem Verkehr nach rechts ab und fuhr nordwärts über die Pentonville Road.

»Ich fürchte, ich weiß, was dir entgangen ist«, sagte Pitt schließlich.

»Was denn?«, fragte sie. »Ich kann mir weder einen einzelnen Menschen noch eine Gruppe vorstellen, die bereit wäre, das eine oder andere der geplanten Gesetzesvorhaben durchzubringen. Ein solcher Versuch wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn im Oberhaus würde man das Ganze unverzüglich in Bausch und Bogen ablehnen, und die Leute müssten wieder von vorn anfangen. Bis dahin hätte sich die Opposition gesammelt und würde ihre Gegenargumente vortragen. Das muss den Leuten auch bekannt sein.«

»Mit Sicherheit«, gab er ihr Recht. »Aber wenn es kein Oberhaus gäbe …«

Das Licht der Straßenlaternen wirkte grell, das Rollen der Wagenräder unnatürlich laut. »Du meinst, wieder eine Pulververschwörung wie die im Jahre 1605?«, fragte sie. »So etwas würde das ganze Land empören. Damals hat man Guy Fawkes samt seinen katholischen Mittätern gehängt und gevierteilt, weil sie das Parlament in die Luft jagen wollten. Heutzutage dürfte die Strafe wohl nicht ganz so barbarisch ausfallen, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht darauf wetten würde.« Ihr Gesicht lag einen Augenblick im Schatten, als eine höhere und längere Kutsche zwischen ihnen und den Straßenlaternen vorüberfuhr.

Nach einer knappen Stunde erreichten sie müde, durchgefroren und voll innerer Anspannung das Gasthaus, das Narraway und Charlotte inzwischen aufgesucht hatten. Sie alle begrüßten einander so kurz wie herzlich, dann ließen sie sich vom Wirt die Zimmer zeigen, die sie für die Nacht beziehen wollten. Anschließend suchten sie einen kleinen Nebenraum auf, in dem man ihnen Erfrischungen servieren und sie im Übrigen ungestört lassen würde.

Tiefe Rührung erfasste Pitt bei Charlottes Anblick. Er freute sich, ihr Gesicht zu sehen, und war zugleich besorgt, weil sie so abgespannt wirkte. Er war erleichtert, sie in Sicherheit zu wissen, denn ihm war klar, in welcher Gefahr sie sich befunden hatte. Zugleich aber betrübte es ihn zutiefst, dass er nicht mit ihr allein sein konnte, und sei es nur für eine kurze Weile. Außerdem merkte er, dass er sich ärgerte, weil sie sich seiner Ansicht nach unbedacht in Gefahr begeben hatte. Er fühlte sich schmerzlich ausgeschlossen, hatte sie ihn doch zuvor weder nach seiner Meinung noch nach seinen Gefühlen befragt – allerdings, das musste er sich eingestehen, hatte es dazu auch keine Gelegenheit gegeben. Narraway war bei ihr gewesen, und er nicht. Ihm war klar, dass seine Empfindungen kindisch waren, doch obwohl er sich deswegen schämte, änderte das an ihrer Intensität nicht das Geringste.