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Dann sah er zu Narraway hin, der sich mit seinen schmalen, starken Händen das schwarze Haar ungeduldig nach hinten strich, als sei es ihm im Weg, und unwillkürlich nahm sein Ärger ab. Die Linien im Gesicht seines Vorgesetzten schienen deutlich tiefer eingeschnitten als zuvor, und seine Augen waren gerötet.

Die beiden Männer sahen einander an, unsicher, wer in der Situation das Kommando hatte. Narraway hatte viele Jahre an der Spitze des Sicherheitsdienstes gestanden, doch jetzt hatte

Sie lächelte. »Sitz doch nicht wie ein Schuljunge da, Thomas, der darauf wartet, dass man ihm erlaubt zu sprechen. Du bist jetzt der Leiter des Sicherheitsdienstes. Wie schätzt du die Lage ein? Wir werden unsere Ansichten beitragen, sofern wir etwas wissen.«

Pitt räusperte sich. Er kam sich vor, als mache er Narraway sein Amt streitig, doch zugleich merkte er, dass der Mann mitgenommen war. Das konnte niemanden wundern, denn schließlich war er auf eine Weise ausgebootet worden, die er nicht hatte voraussehen können, war eines Verbrechens bezichtigt worden, ohne dass er eine Gelegenheit gehabt hätte, seine Schuldlosigkeit zu beweisen. Seine Lage war alles andere als beneidenswert, und es gehörte sich, ihn mit Nachsicht und Freundlichkeit zu behandeln.

Pitt legte in Einzelheiten dar, was in der Zeit zwischen der Ermordung Wests und dem Augenblick geschehen war, da er sich gemeinsam mit Stoker bemühte hatte, möglichst viele Puzzleteile zusammenzusetzen. Ihm war bewusst, dass er in Lady Vespasias und Charlottes Gegenwart wichtige Staatsgeheimnisse ansprach, was er bisher nie getan hatte. Doch der Ernst der Lage ließ nicht zu, dass man die beiden Frauen ausschloss. Wenn es nicht gelang, den geplanten Anschlag zu verhindern, würde ohnehin alles der Öffentlichkeit in kürzester Zeit bekannt werden. Wie bald das sein würde, konnte man nur raten.

Als er geendet hatte, sah er zu Narraway hin.

»Das lohnendste und auch naheliegendste Ziel für einen solchen Angriff dürfte das Oberhaus sein«, sagte dieser bedächtig. »Das wäre ein ungeheuer tiefer Eingriff in unsere Lebensumstände. Gott allein weiß, wie es dann weitergehen würde. Der französische Thron ist bereits gestürzt, der von Österreich-Ungarn

»Bei uns sehen die Dinge aber doch anders aus«, hielt Pitt dagegen. »Zwar hatte Königin Viktoria vor einigen Jahren eine schwierige Zeit, aber ihre Beliebtheit nimmt wieder zu.«

»Sollten die Leute einen Anschlag auf unsere Erbmonarchie vorhaben, hätte das übrige Europa keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen«, gab Narraway zu bedenken. »Überlegen Sie doch, Pitt. Wo würden Sie ansetzen, wenn Sie ein begeisterter Sozialist wären und die Absicht hätten, die Privilegien einer Schicht hinwegzufegen, die über alle anderen gebietet? In Frankreich hat der Adel alle Herrschaftsrechte eingebüßt, und in Spanien hat er jeglichen Einfluss verloren. Zu der Zeit, als dort die Habsburger regierten, war der Hof mit den Herrscherhäusern in halb Europa verwandt, aber davon kann jetzt keine Rede mehr sein. Österreich-Ungarn? Das zerbröselt allmählich. Deutschland? Da hat bis vor wenigen Jahren Bismarck alle Macht in Händen gehalten, und wie es unter Kaiser Wilhelm II. weitergeht, wird die Zukunft zeigen. Alle bedeutenden Herrscherhäuser in Europa sind auf die eine oder andere Weise mit Königin Viktoria verwandt. Wenn sie

»Ehre und Moral lassen sich nicht vererben, Victor«, sagte Lady Vespasia leise. »Wohl aber kann man von der Wiege auf ein Verständnis für die Vergangenheit erlernen und Dankbarkeit für die damit verbundenen Gaben. Man kann lernen, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen, zu hüten und vielleicht zu mehren, was man bekommen hat, und es denen zu hinterlassen, die uns nachfolgen.«

Sein Gesicht wirkte erschöpft, als er sie ansah. »Mit dem eben Gesagten habe ich die Worte jener Leute wiederholt, Vespasia, es waren nicht meine eigenen.« Er biss sich auf die Lippe. »Wer sie besiegen will, muss wissen, woran sie glauben und was sie planen. Sofern es ihnen gelingt, an die Macht zu kommen, werden sie nicht nur das Schlechte beseitigen, sondern auch das Gute hinwegfegen, weil ihnen nicht klar ist, was es bedeutet, ausschließlich seinem Gewissen und nicht der Stimme des Volkes verantwortlich zu sein, das sich bei allem zu Wort meldet, ganz gleich, ob es etwas von der Sache versteht oder nicht.«

»Entschuldigung«, sagte sie. »Vielleicht bin ich ein wenig verängstigt. Hysterisches Verhalten ist mir in tiefster Seele zuwider. «

»Verständlich«, versicherte er ihr. »Sollte einst der Tag kommen, an dem niemand mehr so empfindet, sind wir alle verloren. « Er wandte sich an Pitt. »Haben Sie eine Vorstellung von irgendwelchen spezifischen Plänen?«

»Nur sehr ungenaue«, räumte dieser ein. »Aber ich kenne den Feind.«

Er teilte Narraway mit, was er Lady Vespasia bereits über die verschiedenen Gewalttäter gesagt hatte, die einander hassten, jetzt aber etwas gefunden zu haben schienen, was sie einte.

»Wo befindet sich Ihre Majestät zur Zeit?«, erkundigte sich Narraway.

»In ihrem Palast Osborne House auf der Isle of Wight«, gab Pitt zur Antwort. Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Unwillkürlich kamen ihm Anmerkungen und Beobachtungen in den Sinn, die andere gemacht hatten: betont unauffällig scheinende Ortsveränderungen von Männern, deren Namen jeden hätte alarmieren müssen, der diese Berichte las. Narraway wäre das sofort aufgefallen. »Ich vermute, dass sie dort zuschlagen wollen. Es ist die verwundbarste Stelle, an der ein Angriff zugleich den größten Erfolg verspricht.«

Narraway wirkte noch bleicher als zuvor. »Die Königin?« Er war so entsetzt, dass er nichts weiter sagte. Der bloße Gedanke an einen Angriff auf die Person Königin Viktorias war so erschütternd, dass es ihm die Sprache verschlug.

Pitt überlegte, wie viele Soldaten auf der Insel stationiert waren, kalkulierte, was der Sicherheitsdienst an Männern aufbieten konnte, wenn er sie von anderen Aufgaben abzog. Außerdem ließen sich Polizeikräfte mobilisieren. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. Was, wenn die unsichtbaren Gegner wollten, dass er genau in diese Richtung dachte, damit er alle Kräfte auf den Schutz von Osborne House konzentrierte und der Angriff an einer gänzlich anderen Stelle erfolgen konnte?

»Seien Sie vorsichtig«, mahnte ihn Narraway. »Wenn Sie die Öffentlichkeit beunruhigen, würde allein das schon den Schaden anrichten, den die Leute erstreben.«

»Das ist mir bekannt.« Pitt merkte, dass ihn auch Charlotte und Lady Vespasia aufmerksam ansahen. »Das ist mir bekannt«, wiederholte er. »Ebenso ist mir bewusst, dass sie im Grunde beliebig viel Zeit haben. Sie können in aller Ruhe abwarten, bis wir in unserer Aufmerksamkeit nachlassen, und dann losschlagen.«

»Das bezweifle ich.« Narraway schüttelte den Kopf. »Die Leute wissen von meiner Flucht und auch, dass Sie aus Frankreich zurück sind. Ich denke, wir müssen rasch handeln, genau genommen sofort. Die von Ihnen genannten Männer, die in England zusammengekommen sind, werden nicht warten. Ich schlage vor, Sie kehren nach Lisson Grove zurück und …«

»Ich fahre nach Osborne House«, fiel ihm Pitt ins Wort. »Ich habe niemanden, den ich schicken kann, und falls Sie Recht haben, könnte es sogar schon zu spät sein.«

»Sie fahren nach Lisson Grove«, wiederholte Narraway. »Sie sind Leiter des Sicherheitsdienstes und kein Infanterist, der in den Krieg zieht. Was wird aus der Operation, wenn man Sie erschießt, gefangen nimmt oder Sie einfach nicht zu erreichen sind? Hören Sie auf, wie ein Abenteurer zu handeln, und versuchen Sie wie ein Mann zu denken, der eine Führungsposition innehat. Ihre Aufgabe ist es, genau festzustellen, wem Sie vertrauen können, und das müssen Sie bis morgen Abend wissen. « Er sah zu der Messinguhr auf dem Kaminsims. »Bis heute Abend«, verbesserte er sich. »Ich fahre nach Osborne House. Da kann ich die Menschen zumindest warnen und vielleicht auch einen Angriff, wie auch immer der aussieht, aufhalten, bis Sie eine Möglichkeit finden, Verstärkung zu schicken.«