»Du musst damit rechnen, dass man dir dort den Zutritt verweigert«, gab Lady Vespasia zu bedenken. »Immerhin hast du keinen offiziellen Status mehr.«
Narraway zuckte zusammen. Ganz offensichtlich hatte er das nicht bedacht.
»Ich komme mit«, fuhr sie fort. Sie sagte das nicht als Angebot, sondern stellte es als unverrückbare Tatsache hin. »Man kennt mich dort. Es müsste schon sehr sonderbar zugehen, wenn man auch mich nicht auf das Anwesen ließe. Wenn ich dann die Umstände und die damit verbundene Gefahr erkläre,
Pitt erhob keine Einwände gegen diese erkennbar sinnvolle Lösung. Er stand auf. »Dann sollten wir uns besser gleich aufmachen. « Zu Charlotte gewandt, sagte er: »Wir fahren nach Hause, während sich Mr Narraway und Tante Vespasia auf den Weg nach Southampton machen, um von dort zur Isle of Wight überzusetzen.«
Lady Vespasia sah erst ihn und dann Narraway an. »Ich denke, es wäre vernünftig, erst einmal einige Stunden zu schlafen«, sagte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Danach frühstücken wir. Uns stehen einige schwere Entscheidungen und vielleicht auch harte Auseinandersetzungen bevor. Nur wer seelisch und körperlich bei Kräften ist, kann sein Bestes geben.«
Pitt wollte aufbegehren, doch er war zu erschöpft. Sofern es sich moralisch vertreten ließ, würde er sich gern einige Stunden hinlegen und alles vergessen. Er wusste nicht, wann er sich zum letzten Mal so richtig entspannt hatte, ganz von dem inneren Frieden zu schweigen, den das Bewusstsein mit sich brachte, Charlotte an seiner Seite zu haben, und zu wissen, dass sie in Sicherheit war.
Er sah zu Narraway hin.
Dieser sagte mit trübseligem Lächeln: »Ein guter Rat. Wir stehen um vier Uhr auf und fahren um fünf Uhr ab.« Er richtete den Blick auf Vespasia, um zu sehen, ob sie damit einverstanden war.
Sie nickte.
»Ich komme mit«, sagte Charlotte. In ihrer Stimme lag kein fragender Ton, offensichtlich war sie bereit, sich durchzusetzen. Zu Pitt gewandt, erläuterte sie: »Es geht nicht darum, dass ich mich für unentbehrlich halte, aber ich kann Tante
Natürlich hatte sie Recht. Pitt hätte selbst daran denken sollen. Wie konnte er nur! »Selbstverständlich«, stimmte er zu. »Und jetzt sollten wir uns eine Weile hinlegen.«
Als sie oben in ihrem Zimmer waren und die Tür geschlossen hatten, sah ihn Charlotte liebevoll und bittend an. »Es tut mir wirklich leid«, begann sie.
»Sag nichts«, unterbrach er sie. » Wir wollen einfach beieinander sein, solange wir die Möglichkeit dazu haben.«
Er streckte die Arme aus, sie trat auf ihn zu und umschlang ihn. Er war so müde, dass er fast im Stehen eingeschlafen wäre. Als sie sich einige Augenblicke später hinlegten, war ihm undeutlich bewusst, dass sie ihn nach wie vor umarmt hielt.
Am frühen Morgen brach Pitt auf, um in sein Amt zurückzukehren, während Charlotte, Lady Vespasia und Narraway mit der Kutsche über die Hauptstraße nach Süden zum nächstgelegenen Bahnhof fuhren, wo sie einen Zug nach Southampton nehmen und von dort mit der Fähre zur Isle of Wight übersetzen wollten.
»Sofern sich noch nichts Verdächtiges geregt haben sollte, könnte es schwierig werden, eine Audienz bei der Königin zu erwirken«, sagte Narraway, nachdem sie im Zug Platz genommen hatten. Das Rattern der Räder wirkte beruhigend auf alle drei. »Für den Fall aber, dass der Feind bereits sozusagen vor den Toren steht, müssen wir uns eine Lösung ausdenken, wie wir trotzdem hineingelangen.«
»Wie wäre es, wenn wir in Southampton eine Arzttasche kauften und sie mit einigen Fläschchen und Pülverchen aus einer Apotheke bestückten?«, schlug Charlotte vor. »Dann
Nach kurzem Überlegen befand Lady Vespasia: »Glänzender Gedanke. Dann sollten wir aber für dich noch ein schlichteres Kleid und eine weiße Schürze ohne Verzierungen kaufen, die für beide Zwecke dienen kann. Ich denke, du gehst besser als Schwester, die den Arzt begleitet. Mit Zofen werden sich die Leute dort auskennen, über Krankenschwestern hingegen wissen sie vielleicht weniger. Bist du damit einverstanden, Victor?«
Belustigung blitzte in seinen Augen auf. »Selbstverständlich. Wir werden das alles erledigen, sobald wir in Southampton angekommen sind.«
»Befürchten Sie, wir könnten bereits zu spät kommen?«, fragte Charlotte.
Er versuchte gar nicht erst, ihr etwas vorzutäuschen, und sagte ja. »Ich an deren Stelle hätte inzwischen gehandelt.«
Wenige Stunden später erreichten sie das große und mit allen Bequemlichkeiten ausgestattete Anwesen, auf dem sich Königin Viktoria schon viele Jahre ihres Lebens aufgehalten hatte, ganz besonders nach dem Tod ihres Prinzgemahls Albert, weil sie dort wohl den Trost fand, den ihr keins ihrer zahlreichen prächtigen Schlösser bot.
Alles schien in der Frühlingssonne friedlich dazuliegen. Das Gras war leuchtend grün, und die meisten Bäume prangten in frischem Laub. Während der Schwarzdorn in voller Blüte stand, zeigten sich beim Weißdorn erste Knospen.
Den Palast hatte man in einer leicht gewellten Parklandschaft errichtet, wie sie so viele Anwesen außerordentlich wohlhabender Familien des Landes umgab. Neben einem großen Baumbestand
Die Mietkutsche hielt an, sie stiegen aus und entlohnten den Kutscher.
»Bestimmt woll’n Se, dass ich warte«, sagte dieser mit freundlichem Nicken. »Se könn’n sich hier drauß’n umseh’n, das is’ alles. Wenn Ihre Majestät da is’, komm’n Se nich näher ran.«
Lady Vespasia gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. »Vielen Dank, guter Mann, Sie können umkehren.«
Er gehorchte achselzuckend, wendete sein Fahrzeug und brummelte etwas über die Ahnungslosigkeit von Touristen vor sich hin.
» Wir dürfen uns hier nicht länger aufhalten«, sagte Narraway. In seiner Stimme lag Bedauern. »Noch kann ich nichts Verdächtiges erkennen. Alles sieht so aus, wie es meiner Vermutung nach sein müsste. Sogar ein Gärtner arbeitet da hinten. « Statt mit der Hand zu zeigen, nickte er in die Richtung.
Charlotte sah hin und erkannte einen über eine Hacke gebeugten Mann, der den Boden zu bearbeiten schien. Bei dieser heimelig wirkenden ländlichen Szene wich ein Teil ihrer Besorgnis von ihr. Vielleicht hatten sie sich unnötig geängstigt. Sie waren rechtzeitig gekommen. Jetzt mussten sie sich bemühen, nicht töricht zu wirken, nicht nur um ihrer Selbstachtung
Es sei denn, sie hatten sich geirrt, und der Schlag würde anderswo geführt. War auch das hier nichts als ein glänzend geplantes Ablenkungsmanöver?
Narraway zwang sich im Sonnenlicht zu einem Lächeln. »Ich komme mir mit dieser Tasche jetzt ein wenig lächerlich vor.«
»Halte sie bitte so, als sei sie dir sehr wichtig«, sagte Vespasia ganz leise. »Du wirst sie brauchen. Der Mann dahinten ist ebenso wenig Gärtner, wie du Arzt bist. Er kann ganz offensichtlich kein Unkraut von einer Blume unterscheiden. Seht nicht hin, damit er nicht gewarnt wird. Ein Arzt, der zur Königin gerufen wird, kümmert sich nicht um Männer, die Petunien die Triebe abhacken.« Während Lady Vespasia das sagte, stand sie gerade aufgerichtet und trug den Kopf mit ihrem modischen Hut so stolz und hoch erhoben, als stehe sie im Begriff, als Ehrengast ein Gartenfest zu besuchen.
Charlotte spürte, wie ihr die Sonne in die Augen stach. Der riesige Bau schien vor ihren Blicken zu verschwimmen.
Am Eingang trafen sie auf einen Haushofmeister, dessen weiße Haare so straff nach hinten gekämmt waren, als habe er sie ausreißen wollen. Er erkannte Lady Vespasia sogleich.
»Guten Tag«, begrüßte er sie mit zittriger Stimme. »Bedauerlicherweise fühlt sich Ihre Majestät heute ein wenig unwohl und empfängt keine Besucher. Wie schade, Lady Vespasia, dass wir von Ihrem Kommen nicht rechtzeitig unterrichtet waren, um Ihnen das mitzuteilen. Ich würde Sie gern wenigstens ins Haus lassen, aber wie das Unglück es will, hat eins unserer Mädchen eine fiebrige Entzündung, und wir befürchten,