»Ich denke, es ist besser, wenn Sie sitzenbleiben, Ma’am«, sagte Vespasia mit freundlicher Stimme. »Ich bedaure, Ihnen unangenehme Dinge mitteilen zu müssen …«
»Vespasia!«, sagte Narraway mit mahnendem Unterton.
»Still, Victor«, gab sie zurück, ohne den Blick von der Königin zu nehmen. »Ihre Majestät hat einen Anspruch darauf, die Wahrheit zu erfahren.«
»Ich verlange das!«, fuhr Königin Viktoria auf. » Was geht hier vor sich?«
Narraway trat zurück und ergab sich mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte, in sein Schicksal.
»Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, Ma’am«, erklärte Lady Vespasia offen heraus, »dass Bewaffnete Ihr Anwesen umstellt
Die Königin sah sie fassungslos an und richtete dann den Blick an ihr vorüber auf Narraway. »Und wer sind Sie? Etwa einer dieser … Verräter?«
»Nein, Ma’am. Bis vor wenigen Tagen war ich der Leiter Ihres Sicherheitsdienstes«, gab er zurück.
»Und warum sind Sie es nicht mehr? Wieso haben Sie Ihren Posten verlassen?«
»Man hat mich meines Amtes enthoben, Ma’am. Es ist das Werk von Verrätern innerhalb des Sicherheitsdienstes. Ich bin gekommen, um Ihnen zur Seite zu stehen, soweit mir das möglich ist, bis Hilfe kommt. Wir haben dafür gesorgt, dass das nicht lange dauert.«
»Wann wird sie kommen?«
»Ich hoffe, noch vor Einbruch der Dunkelheit, spätestens kurz danach«, erläuterte Narraway. »Der neue Leiter des Sicherheitsdienstes muss sich erst Gewissheit verschaffen, wem er trauen kann.«
Sie blieb einige Augenblicke reglos sitzen. Das Ticken der Standuhr erfüllte den Raum.
»Dann dürfte es das Beste sein, Haltung zu bewahren und abzuwarten«, sagte die Königin schließlich. »Notfalls werden wir kämpfen.«
»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit zu fliehen, bevor es zum Äußersten kommt …«, setzte Narraway an.
Königin Viktoria warf ihm einen aufgebrachten Blick zu. »Junger Mann, ich bin Königin von England und Herrscherin über das britische Weltreich. Wir sind, solange meine Herrschaft dauert, stets auf unserem Posten geblieben und haben in allen Winkeln der Erde Kriege gewonnen. Soll ich etwa in meinem eigenen Hause vor einer Handvoll Rüpel davonlaufen? Ausgerechnet hier in Osborne House?«
Narraway richtete sich ein wenig mehr auf.
Lady Vespasia hielt den Kopf hoch.
Charlotte merkte, dass auch sie sich unwillkürlich streckte.
»Schön, schön!«, sagte die Königin und sah alle drei mit einem Anflug von Billigung in den Augen an. »Getreu dem Wort eines meiner bedeutendsten militärischen Anführer, Sir Colin Campbell, der im Krimkrieg beim sogenannten Totenritt von Balaklawa vor der Schlacht gesagt hat: ›Hier stehen wir und hier sterben wir.‹« Mit kaum wahrnehmbarem Lächeln fügte sie hinzu: »Aber da es bis dahin noch eine Weile dauern kann, dürfen Sie sich gern setzen.«
KAPITEL 12
Pitt kehrte in dem Bewusstsein nach Lisson Grove zurück, dass er dort, von Stoker abgesehen, mit keinen Verbündeten rechnen konnte und die Sicherheit der Königin, wenn nicht des gesamten Königshauses, gleichsam allein von ihm abhing. Während er die Stufen emporging und ins Haus trat, spürte er überrascht, wie nahe ihm das ging. Er empfand eine tiefe innere Bindung an die Monarchie. Sie galt nicht der alten Frau, die in einsamer Witwenschaft in einem als »Haus« bezeichneten Palast auf der Isle of Wight die Erinnerungen an den Gatten pflegte, den sie bewundert hatte. Millionen Menschen waren einsam, und viele von ihnen ein Leben lang, außerdem waren die meisten von ihnen arm, oft auch krank, und dennoch ertrugen sie beides tapfer und voll Würde. Sondern sie galt der Verkörperung dessen, was Großbritannien für sein Leben bedeutete.
Für ihn verkörperte die Monarchin außer Großbritanniens Führungsanspruch in der Welt den Gedanken der Einheit, die ein Viertel des Erdballs zusammenhielt und die wichtiger war als alle Unterschiede von Rasse, Religion und äußeren Umständen. Gewiss, in der Gesellschaft gab es unübersehbar Habgier, Überheblichkeit und Eigennutz, aber auch viel Gutes, nämlich Tapferkeit, Großzügigkeit und vor allem Treue. Was
All das hatte mit der Person der Königin so gut wie nichts zu tun, und erst recht nichts mit dem Prinzen von Wales. Der noch nicht lange zurückliegende Mordfall im Buckingham Palast beschäftigte Pitt nach wie vor. Er konnte die rücksichtslose Selbstsucht des Prinzen ebenso wenig vergessen wie dessen Dünkel, der ihn veranlasste, andere Menschen nicht zur Kenntnis zu nehmen, oder den hassvollen Blick, mit dem er ihn nach der Aufklärung des Falles bedacht hatte – und er durfte das auch nicht vergessen. Möglicherweise würde der Prinz schon bald als König Edward VII. herrschen und damit zumindest teilweise Einfluss auf Pitts weitere Laufbahn als Diener der Krone nehmen. Pitt hätte lieber einen Besseren auf dem Thron gesehen, doch hielt er der Krone unabhängig von persönlichen Enttäuschungen die Treue.
Jetzt konzentrierte er all seine Bemühungen darauf, Austwick in Schach zu halten. Wem sollte er trauen? Unmöglich würde er die Aufgabe allein bewältigen können. Gewiss, er hatte mit Lady Vespasia, Narraway und Charlotte Verbündete in diesem Kampf, doch musste er sich zwingen, nicht an sie zu denken. Auf keinen Fall durfte er an die Gefahr denken, der sie ausgesetzt waren. Zu den Belastungen, die Führerschaft mit sich brachte, gehörte, dass man alles Persönliche ausblenden und sein Handeln ganz und gar auf das allgemeine Wohl ausrichten musste.
Auf seinem Weg durch die vertrauten Gänge hätte er fast unwillkürlich sein früheres Büro aufgesucht, in dem jetzt ein anderer arbeitete, und nicht jenes, das Narraway gehört hatte und in das dieser zurückkehren würde, wenn die Krise bewältigt war.
Nachdem er die Tür geschlossen und sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, war er froh, Narraways persönliche Gegenstände
Einen Augenblick lang lächelte Pitt, dann wandte er seine Aufmerksamkeit den frisch eingetroffenen Berichten auf seinem Schreibtisch zu. Es waren nur wenige, und sie enthielten unerhebliche Aussagen über Dinge, die ihm zum größten Teil bereits bekannt waren – nichts befand sich darunter, was in irgendeiner Weise etwas an der bedrohlichen Situation geändert hätte.
Er erhob sich und suchte Stoker in dessen Büro auf. Wenn er ihn zu sich riefe, würden die anderen misstrauisch werden. Er brauchte unbedingt jemanden, auf den er sich verlassen konnte, sonst wäre sein Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn Stoker ihm half, waren die Erfolgsaussichten verzweifelt gering.
»Ja, Sir?«, sagte Stoker, der sich bei Pitts Eintreten erhoben hatte, in fragendem Ton. Er sah ihm ins Gesicht, als wolle er dort ablesen, was er dachte.
Pitt hoffte, dass das nicht so einfach sein würde. Er musste daran denken, wie er mit seinen Versuchen, Narraways Gedanken zu erraten, meist Schiffbruch erlitten hatte.
» Wir wissen, worum es geht«, sagte er ruhig. Geheimniskrämerei hatte keinen Sinn. Während er das sagte, kam er sich vor wie jemand, der auf einer Klippe stand, um von dort in die unbekannte Tiefe zu springen.
»Ja, Sir …« Stoker blieb starr stehen, sein Gesicht war bleich. Er hielt noch das Schriftstück in den Händen, in dem er bei Pitts Eintreten gelesen hatte.
Pitt holte Luft. »Mr Narraway ist aus Irland zurück.« Er erkannte die Erleichterung in Stokers Augen, die zu groß war, als dass dieser sie hätte verbergen können, und fuhr daraufhin mit einer gewissen Beruhigung fort: » Wie es aussieht, haben wir Grund zu der Annahme, dass man bereits begonnen hat, einen umfangreichen gewalttätigen Plan ins Werk zu setzen. Es steht zu befürchten, dass die Leute, deren gemeinsames Auftreten beobachtet wurde, wie beispielsweise Willie Portman, Fenner, Guzman und so weiter, die Absicht haben, in Osborne House gegen Ihre Majestät vorzugehen …«