»Großer Gott im Himmel!«, stieß Stoker hervor. »Die planen doch wohl keinen Königsmord?«
Pitt verzog das Gesicht.
»Dazu dürfte es höchstens unabsichtlich kommen. Wir vermuten, dass die Leute Ihre Majestät als Geisel festhalten, um den Erlass eines Gesetzes zur Abschaffung der Vorrechte des Erbadels im Oberhaus zu erzwingen. Vermutlich würde sie ein solches Gesetz eher unterzeichnen als ihre eigene Abdankungsurkunde …«
Stokers Gesicht war aschfahl. Er sah Pitt an wie eine Erscheinung aus einem Alptraum. Er schluckte zweimal. »Und dann? Wird man sie danach umbringen?«
Pitt hatte ganz bewusst nicht so weit gedacht. Möglicherweise wäre das in der Tat folgerichtig. Die Menschen in Großbritannien wie auch im größten Teil der Welt würden Viktoria als Königin ansehen, solange sie lebte, ganz gleich, was diese oder jene sagen oder tun mochten. Pitt hatte nicht angenommen, dass sich die Situation verschlimmern könnte, aber mit einem Schlag stand diese Möglichkeit vor ihm.
»Ja, es ist denkbar«, stimmte er zu. »Mr Narraway hat mit Lady Vespasia Cumming-Gould Osborne House aufgesucht, wo sie versuchen wollen zu retten, was zu retten ist, bis wir die
Stoker rang sichtlich um Fassung.
»Das aber ist uns erst möglich, wenn wir wissen, auf wen wir uns verlassen können«, fügte Pitt hinzu. »Die Gruppe muss klein bleiben, damit die Sache nicht auffällt. Falls wir mit einem halben Armeekorps da aufkreuzten, würde das die Leute höchstwahrscheinlich zu sofortiger Gewalttat provozieren. Oder sie werden, wenn sie merken, dass sie in die Ecke getrieben sind und nicht entkommen können, danach trachten, sich ihre Freiheit mit dem Leben der Königin zu erkaufen. « Er spürte, wie ihm bei diesen Worten ein Kloß in die Kehle stieg. Er stand im Begriff, den Kampf mit einem Gegner aufzunehmen, über den er so gut wie nichts wusste. Hinzu kam, dass – im Unterschied zu ihm – einige seiner eigenen Leute dessen Geheimnisse kannten. Einen Augenblick lang erfasste ihn Verzweiflung. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Jede Möglichkeit zu handeln schien von vornherein den Keim des Scheiterns in sich zu tragen.
» Wir müssen versuchen, sie mit einer Handvoll gut ausgebildeter Bewaffneter zu überraschen«, sagte Stoker ruhig.
»Ja, das dürfte unsere einzige Hoffnung sein«, gab ihm Pitt Recht. »Aber vorher müssen wir den Verräter hier in Lisson Grove ermitteln und feststellen, wer seine Verbündeten sind, da sonst die Gefahr besteht, dass jede unserer Bemühungen von vornherein sabotiert wird.«
Stokers Hand ballte sich zur Faust. » Wollen Sie damit sagen, dass es mehr als einen gibt?«
»Sie etwa nicht?«
»Ich weiß nicht recht.« Stoker fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich weiß es tatsächlich nicht, und wir haben auch keine Zeit, es herauszubekommen. Das könnte Wochen in Anspruch nehmen.«
»Es muss aber sehr viel schneller gehen«, gab Pitt zurück, zog einen Stuhl heran und setzte sich. » Wir müssen bis heute Abend eine Entscheidung treffen.«
»Und wenn wir uns dabei irren?«, fragte Stoker.
»Das dürfen wir nicht«, erwiderte ihm Pitt. »Es sei denn, Sie wollen, dass es erneut durch einen Mord zur Gründung einer Republik kommt und die Menschen künftig in Angst leben müssen. Als Erstes wollen wir feststellen, wer für die Intrige verantwortlich ist, mit deren Hilfe man Narraway aus dem Amt gedrängt und dafür gesorgt hat, dass eine Beziehung zu Irland hergestellt wurde, damit er in einem irischen Gefängnis festsaß, während hier der Plan ausgeführt wurde.«
Stoker holte tief Luft. »Ja, Sir. Dann sollten wir besser gleich anfangen. Ich sage das nicht gern, aber wir müssen jeden, mit dem Gower zusammengearbeitet hat, genau unter die Lupe nehmen. Bestimmt hängt mit der Sache auch zusammen, dass man Sie von hier weggelockt hat.«
»Natürlich«, stimmte Pitt zu. »Aber Gower hat mit mir zusammengearbeitet, und ich habe Mr Narraway unterstanden.«
»Jedenfalls hat es für uns alle so ausgesehen, als hätte er mit Ihnen zusammengearbeitet«, sagte Stoker nachdenklich »In Wahrheit muss es sich aber anders verhalten haben. Ich werde mir Gowers Unterlagen aus der Personalabteilung beschaffen. Wir müssen unbedingt wissen, mit wem er zusammen war, bevor man ihn Ihnen zugeteilt hat. Oder wissen Sie das zufällig?«
»Ich weiß nur, was er gesagt hat«, gab Pitt mit schiefem Lächeln zurück. »Ich würde gern mehr darüber erfahren. Es dürfte das Beste sein, sich jeden Einzelnen der hier Beschäftigten einmal genauestens anzusehen.«
Sie verbrachten den Rest des Tages damit, alle Personalunterlagen des vergangenen Jahres durchzugehen, wobei sie darauf achten mussten, dass niemand ihren Beweggrund dafür durchschaute.
» Was suchen Sie genau, Sir?«, erkundigte sich ein Mitarbeiter der Personalabteilung hilfsbereit. »Vielleicht kann ich es finden. Ich kenne mich mit den Unterlagen ziemlich gut aus.«
Pitt hatte sich seine Antwort gut überlegt. »Eine üble Sache, die sich Narraway da geleistet hat«, sagte er mit finsterer Miene. »Ich möchte absolut sicher sein, dass es nicht noch mehr in der Art gibt, aber auch wirklich gar nichts, damit wir nicht noch einmal in eine solche Situation geraten.«
Mit weit geöffneten Augen schluckte der Mann. »Dazu kommt es bestimmt nicht noch einmal, Sir.«
»Das haben wir ursprünglich auch angenommen«, teilte ihm Pitt mit. »Ich möchte mich aber nicht auf Vermutungen stützen, sondern es wissen.«
»Ja, Sir. Selbstverständlich, Sir. Kann ich etwas tun … oder …« Er biss sich auf die Lippe. »Ich verstehe, Sir. Natürlich können Sie keinem von uns hier trauen.«
Pitt lächelte trübselig. »Es ist mir durchaus recht, wenn Sie mir helfen, Wilson. Ich muss Ihnen allen trauen, und ebenso müssen Sie mir vertrauen. Schließlich hat Narraway, und nicht einer der ihm unterstellten Mitarbeiter, das Geld unterschlagen. Aber ich muss wissen, ob ihm jemand dabei zur Hand gegangen ist und, falls ja, wer das war und ob es möglicherweise noch andere mit ähnlichen Vorstellungen gibt.«
Wilson straffte sich. »Ja, Sir. Dürfen das auch andere erfahren? «
»Einstweilen besser nicht.« Es war Pitt bewusst, dass er damit ein Risiko einging, aber die Zeit wurde knapp, und falls er den Mann bei einer Unwahrheit ertappte, würde ihm das zumindest zeigen, wo er stand. Möglicherweise war Angst ein verlässlicherer Verbündeter als Zurückhaltung, zumindest, solange sie im Geheimen wirkte.
Ihm war die ganze Situation zutiefst zuwider. Bei der Polizei hatte er zumindest immer gewusst, dass alle seine Mitarbeiter
Am späteren Nachmittag war klar, wie die Verbindung zwischen Gower und Austwick ausgesehen hatte. Sie stießen mehr durch Zufall als durch Nachdenken darauf.
»Hier.« Stoker hielt ihm ein Blatt Papier mit einer darauf gekritzelten Anmerkung hin.
Pitt las sie. Es war offenbar eine Notiz, die ein Mann für sich selbst geschrieben hatte und in der es hieß, dass er Austwick in einem Herrenklub aufsuchen und ihm etwas berichten müsse.
»Ist das von Bedeutung?«, fragte er unsicher. »Es hat nichts mit Sozialisten oder irgendeiner Art von Gewalttat oder Umsturz zu tun.«
»Schon«, sagte Stoker, »aber sehen Sie sich das mal an.« Er gab ihm ein weiteres Blatt, auf dessen unterem Rand in der gleichen Handschrift etwas vermerkt war.
Habe Gower die Mitteilung über Hibbert gegeben, damit dieser sie im Hyde Club an Austwick weiterleitet. Der Fall ist erledigt.
Pitt wusste, dass es sich bei dem Hyde Club um einen äußerst exklusiven Herrenklub im Londoner West End handelte. Er hob den Blick und sah Stoker an. » Wie zum Teufel konnte jemand wie Gower Zutritt zum Hyde Club bekommen?«
»Das habe ich schon erkundet, Sir. Austwick hat ihn empfohlen und für ihn gebürgt. Das kann nur heißen, dass die beiden sehr gut miteinander bekannt waren.«
»Dann wollen wir uns einmal alle Fälle, die Gower und Austwick bearbeitet haben, gründlich ansehen«, schloss Pitt.