» Wir wissen doch schon, auf welche Weise sie in Verbindung gestanden haben.«
»Aber nicht, wer noch mit in der Sache steckt«, gab Pitt zurück. »Es müssen mehr als zwei sein. Das hier gibt uns einen guten Ansatzpunkt. Machen Sie weiter. Wir dürfen auf keinen Fall etwas übersehen.«
Stoker gehorchte schweigend. Er konzentrierte sich auf Gower, während sich Pitt mit allen Unterlagen beschäftigte, die er über Austwick finden konnte.
Gegen elf Uhr abends waren beide völlig erschöpft. Pitt hatte Kopfschmerzen, seine Augen brannten. Ihm war klar, dass es Stoker nicht anders ging.
Er legte das Blatt Papier auf den Tisch, das er gelesen hatte, bis ihm die Schrift vor den Augen verschwamm.
»Irgendwelche Ergebnisse?«, fragte er.
»Ein paar von diesen Briefen hier lassen mich vermuten, dass ihm Sir Gerald Croxdale dicht auf den Fersen war, Sir. Er hat offenbar kurz davor gestanden, ihm auf die Schliche zu kommen«, gab Stoker zurück. »Ich könnte mir denken, dass Austwick deswegen früher zugeschlagen hat, als ursprünglich geplant. Es war für alle ein ziemlicher Schock, dass er Narraway ausmanövriert hat – damit konnte er die Aufmerksamkeit von sich selbst ablenken.«
»Außerdem hat er dadurch die ganze Abteilung in die Hand bekommen«, fügte Pitt hinzu. »Zwar nicht lange, aber vielleicht hat die Zeit gereicht.« Das letzte Blatt, das er gelesen hatte, war ein Bericht von Austwick an Croxdale, doch er dachte an etwas völlig anderes.
Stoker wartete.
»Glauben Sie, dass Austwick der Mann an der Spitze ist?«, fragte er. »Ist er wirklich so viel klüger, als wir angenommen haben? Oder zumindest klüger, als ich angenommen habe?«
Stoker sah unglücklich drein. »Das glaube ich nicht, Sir. Ich habe nicht den Eindruck, dass er die Entscheidungen trifft. Ich habe viele von Mr Narraways Berichten gelesen – die sind
Genau diesen Eindruck hatte Pitt gehabt: Der Mann schien bei jeder Entscheidung zu zögern, als müsse er zuvor alles mit jemandem abstimmen, der die Fäden in der Hand hielt.
Aber wenn ihm Croxdale fast auf die Schliche gekommen wäre, wieso dann Narraway nicht?
» Wem können wir vertrauen?«, fragte Pitt erneut. »Wir müssen eine kleine Streitmacht auf die Beine stellen, aber auf keinen Fall mehr als zwei Dutzend Männer. Wenn es mehr wären, würden die Leute Lunte wittern. Bestimmt achten die genau auf jede Bewegung in der Umgebung des Palasts auf der Insel.«
Stoker schrieb einige Namen auf ein Blatt Papier und schob es Pitt hin.
»Die sind in Ordnung«, sagte er ruhig.
Pitt ging die Liste durch, strich drei Namen durch und fügte zwei weitere hinzu. »Jetzt müssen wir Croxdale informieren und Austwick festnehmen lassen.« Er erhob sich und spürte, wie sich seine Muskeln verkrampften. Er hatte ganz vergessen, wie lange er vorgebeugt dagesessen und Dokument um Dokument gelesen hatte.
»Ja, Sir. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig.«
» Wir brauchen zwar einen bewaffneten Trupp, können aber den Landsitz der Königin auf keinen Fall ohne Rückendeckung durch den Minister stürmen, ganz gleich, wie gut die Gründe sind, die dafür sprechen. Aber keine Sorge, was wir
Die Geiselnehmer, die auch Charlotte, Lady Vespasia und Narraway im behaglichen Salon der Königin festhielten, gestatteten von Zeit zu Zeit einer verängstigten Hofdame den Zutritt, damit sie der Königin zur Hand gehen konnte. Einer der Wächter, der etwas zu essen brachte, ließ die Geiseln nicht einmal aus den Augen, wenn sie ihre Notdurft verrichten mussten.
Die Unterhaltung im großen Salon von Osborne House war gestelzt, denn in Gegenwart der Königin fühlte sich niemand imstande, unbefangen und natürlich zu sprechen. Charlotte sah zu der alten Dame hin. Auf diese geringe Entfernung und ohne die durch eine förmliche Situation erzeugte Distanz kam sie ihr vor wie ihre eigene Großmutter, eine alte Dame, die sie über die Jahre hinweg geliebt, gehasst, gefürchtet und später vor allem bemitleidet hatte. Als Kind hatte sie nie gewagt, etwas zu sagen, was sich als ungezogen auslegen ließ, doch im Laufe der Jahre hatte ihre Wut sowohl die Angst als auch den Respekt hinweggefegt, und sie hatte offen gesagt, was sie dachte. In jüngster Zeit hatte sie schreckliche Geheimnisse über ihre Großmutter erfahren, woraufhin sich ihr Abscheu in Mitgefühl verwandelt hatte.
Jetzt sah sie zu der kleinen, fülligen Dame von Mitte siebzig hinüber, deren Haut deutlich ihr Alter zeigte und deren dünne Haare unter ihrem Spitzenhäubchen kaum zu sehen waren. Über ein halbes Jahrhundert lang saß sie jetzt schon auf Englands Thron, doch niedergedrückt hatte sie nicht die damit verbundene Verantwortung, sondern die bittere Last der Einsamkeit, die ihre Witwenschaft mit sich gebracht hatte. In den Augen der Welt hingegen war sie die glanzvolle Königin, Kaiserin
Während sie aus den Fenstern eines der Obergeschosse von Osborne House im langsam abnehmenden Licht des hereinbrechenden Abends den Blick über Felder und Bäume schweifen ließ, war sie nichts als eine müde alte Frau, die über Dienstpersonal und Untertanen verfügte, aber niemanden hatte, mit dem sie von Gleich zu Gleich verkehren konnte. Wahrscheinlich würde sie nie erfahren, ob irgendjemand sie auch nur angesehen hätte, wenn sie eine gewöhnliche Sterbliche gewesen wäre. Die Einsamkeit, in der sie lebte, war unvorstellbar.
Würden die Männer sie töten, die im Vestibül mit ihren Schusswaffen gewalttätigen Träumen von Gerechtigkeit für Menschen nachhingen, die nie und nimmer gewollt hätten, dass man sie um diesen Preis erkaufte? Falls ja, würde sie das sonderlich beunruhigen? Eine Kugel ins Herz, und sie könnte endlich zu ihrem geliebten Albert heimkehren.
Würde man auch die übrigen umbringen: Narraway, Lady Vespasia und sie selbst, Charlotte? Und was war mit der Dienerschaft? Oder sahen die Geiselnehmer in ihnen gewöhnliche Menschen wie andere auch? Charlotte war überzeugt, dass die Diener sich selbst ganz anders sahen.
Sie hatte eine ganze Weile ruhig in einem Sessel am anderen Ende des großen Raums gesessen. Einem plötzlichen Impuls folgend, stand sie auf und trat ans Fenster. Sie hielt sich zwei Schritte von der Königin entfernt, denn neben sie zu treten wäre ungehörig gewesen. Vielleicht galt es sogar als ungehörig, überhaupt dort zu stehen, aber nun war sie einmal da.
Der Blick, der sich ihr bot, war herrlich. Sie konnte sogar sehen, wie sich in der Ferne das Sonnenlicht im Wasser des Ärmelkanals brach.
Das grelle Licht zeigte unbarmherzig jede Linie im Gesicht der Königin: die Spuren, die Müdigkeit, Kummer und Übellaunigkeit dort hinterlassen hatten, vielleicht auch die mit dem Gefühl der Einsamkeit verbundene Seelenqual. Ob sie Angst hatte?
»Es ist herrlich, Ma’am«, sagte sie leise.
»Wo wohnen Sie?«, fragte die Königin.
»In London, in der Keppel Street, Ma’am.«
»Gefällt es Ihnen da?«
»Ich habe mein Leben lang in London gewohnt, aber ich denke, dass es mir weniger gut gefallen würde, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, mir als Wohnort eine Stelle auszusuchen, wo ich so etwas wie das hier sehen und statt des Verkehrslärms nur den Wind in den Baumkronen hören könnte.«
»Können Sie als Krankenschwester denn nicht auf dem Lande arbeiten?«, fragte die Königin, nach wie vor den Blick geradeaus vor sich gerichtet.
Charlotte zögerte. Das war doch sicher der richtige Augenblick, ihr die Wahrheit zu sagen? Aber nein, es war nur Geplauder. Die Königin machte sich nicht das Geringste daraus, wo Charlotte wohnte. Es war völlig unerheblich, was sie zur Antwort gab. Wenn sie ohnehin alle erschossen werden sollten, auf welche Art von Antwort kam es da noch an? Eine aufrichtige? Nein, eine gütige.
Sie wandte sich um und warf rasch einen Blick zu Lady Vespasia hinüber.
Diese nickte.
Charlotte trat einen halben Schritt näher auf die Königin zu. »Nein, Ma’am. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich keine Krankenschwester bin. Ich habe das dem Mann an der Tür nur gesagt, damit man mich einließ.«