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Die Königin wandte ihr das Gesicht zu und sah sie mit kalten Augen an. »Und warum?«

Charlotte merkte, dass ihr Mund ausgedörrt war. Sie musste sich die Lippen mit der Zunge befeuchten, bevor sie sprechen konnte. »Mein Mann arbeitet für den Sicherheitsdienst, Ma’am. Gestern ist er dahintergekommen, was die Männer hier im Hause vorhaben. Er ist nach London zurückgekehrt, um Hilfe unter denen zu suchen, denen wir vertrauen können. Lady Vespasia, Mr Narraway und ich sind gekommen, um Sie, wie wir hofften, rechtzeitig zu warnen. Offensichtlich sind wir zu spät gekommen, aber jetzt, da wir hier sind, werden wir alles tun, was in unseren Kräften steht, um Ihnen zu helfen.«

Die Königin zwinkerte. »Sie haben gewusst, dass die … Kreaturen hier sind?«, fragte sie ungläubig.

»Ja, Ma’am. Als wir ankamen, ist Lady Vespasia aufgefallen, dass ein Mann, der so tat, als sei er Gärtner, den Petunien die Triebe abgehackt hat – das würde kein richtiger Gärtner tun.«

Die Königin sah an Charlotte vorüber zu Lady Vespasia hin, die nach wie vor auf der anderen Seite des Raumes saß.

»Das stimmt, Ma’am«, beantwortete diese die unausgesprochene Frage der Königin.

Jetzt griff Narraway ein. Er trat vor, machte eine angedeutete Verbeugung, die nichts weiter war als ein leichtes Neigen des Kopfes. »Die Männer sind gewalttätig, Ma’am, und wir sind überzeugt, dass sie alle erblichen Vorrechte des Adels in ganz Europa abschaffen wollen …«

»Alle erblichen Vorrechte«, unterbrach sie ihn. »Wollen Sie damit etwa sagen …«, sie stockte, »… wie in Frankreich?« Sie war erbleicht, was vermuten ließ, dass sie an die Guillotine und die Hinrichtung des französischen Königs und seiner Familie dachte.

»Nicht auf diese gewaltsame Weise, Ma’am«, erklärte Narraway. » Wir nehmen an, dass sie von Ihnen die Unterzeichung

»Nie und nimmer!«, sagte sie mit Nachdruck. Dann schluckte sie. »Es macht mir nichts aus zu sterben, falls die Leute es darauf abgesehen haben. Aber sie sollen meinen Hofstaat verschonen. Sie waren mir alle treu und haben es nicht verdient, dass man ihnen ihren Dienst auf diese Weise vergilt. Manche von ihnen sind noch jung … Können Sie erreichen … dass man sie … in Frieden lässt?«

» Wenn Sie gestatten, Ma’am, werde ich versuchen, die Sache so lange hinauszuzögern, bis Hilfe kommt«, gab er zurück.

» Warum schickt der Sicherheitsdienst nicht das Militär oder zumindest die Polizei?«, fragte sie.

»Es besteht die Gefahr, dass die Leute zur Gewalttat greifen, wenn sie merken, dass man Ihnen mit einem großen Aufgebot zu Hilfe kommt«, erläuterte er. »Sie sind schrecklich nervös und fürchten ein Scheitern ihres Vorhabens, weil sie wissen, dass dann der Galgen auf sie wartet. Wir dürfen sie auf keinen Fall in Panik versetzen, sondern müssen unbedingt so unauffällig vorgehen, dass sie nichts davon merken. Alles muss ganz normal aussehen, bis es für die Leute zu spät ist, Gewalt anzuwenden.«

»Ich verstehe«, sagte sie gefasst. »Ich hatte mich für mutig gehalten, als ich vorhin sagte: ›Hier sterben wir.‹ Es sieht ganz so aus, als hätte ich damit mehr Recht gehabt, als mir bewusst war. Auf jeden Fall werde ich hier in diesem Raum bleiben, in dem ich früher so glücklich war.« Sie sah aus dem Fenster. » Was meinen Sie, ist es im Himmel so, Mr … wie war Ihr Name noch?«

»Narraway, Ma’am. Ja, das ist gut möglich. Jedenfalls hoffe ich das.«

»Reden Sie mir nicht nach dem Mund!«, fuhr sie ihn an.

»Falls Gott Engländer ist, Ma’am, ist es sicher so«, gab er trocken zurück.

Sie wandte sich ihm zu, sah ihn aufmerksam eine Weile an und lächelte dann.

Er verneigte sich erneut, wandte sich dann ab und ging zur Tür.

Von dort aus sah er einen der beiden Bewaffneten auf halber Treppe.

Der Mann musste die Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben, denn er fuhr herum und riss sein Gewehr hoch.

Narraway blieb stehen. Von Fotos des Sicherheitsdienstes her wusste er, dass es sich bei dem Mann um Gallagher handelte, schwieg aber. Falls jemand merkte, wer er war, bestand die Möglichkeit, dass man ihn gleich an Ort und Stelle erschoss.

»Gehen Sie wieder da rein!«, befahl Gallagher.

Narraway blieb stehen. » Was wollen Sie?«, fragte er. » Worauf warten Sie? Geht es um Geld?«

Gallagher schnaubte verächtlich. » Wofür halten Sie uns – für gemeine Diebe? Reicht Ihre Vorstellungskraft nicht weiter? Leute wie Sie können immer nur an das eine denken, Geld, Besitz, immer mehr Geld. Sie glauben, dass es auf nichts anderes als Besitz und Macht ankommt.«

»Und was glauben Sie?«, fragte Narraway mit betont gleichmütiger Stimme.

»Gehen Sie wieder da rein!« Gallagher wies mit dem Gewehrlauf auf die Tür des Salons.

Wieder reagierte Narraway nicht. »Sie halten Ihre Majestät als Geisel, also wollen Sie etwas. Was?«

»Das sagen wir, wenn es so weit ist. Und jetzt rein da mit Ihnen, wenn Sie nicht umgelegt werden wollen.«

Narraway gehorchte zögernd. Er hatte in Gallaghers Stimme einen Anflug von Furcht erkannt, und seine nervösen Bewegungen zeigten, dass er innerlich so unter Spannung stand wie eine straff aufgezogene Stahlfeder. Er spielte um den höchsten Einsatz, den er sich vorstellen konnte, und das hier war die einzige Gelegenheit, die er und die anderen Männer hatten. Wenn sie diese Partie nicht gewannen, würden sie alles verlieren.

Als Narraway in den großen Salon zurückgekehrt war und die Tür geschlossen hatte, sah ihn Lady Vespasia an. »Die Leute hier sind nur Ausführende. Sie warten auf eine Entscheidung von weiter oben«, sagte er rasch. » Vermutlich wird irgendjemand eine Proklamation oder dergleichen bringen und verlangen, dass Ihre Majestät sie unterzeichnet.« Er biss die Zähne zusammen. »Es kann sein, dass wir eine ganze Weile hierbleiben müssen. Wahrscheinlich hat man die Sache dem Premierminister unterbreitet, und sie verhandeln gerade im Kabinett darüber. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren, dafür sorgen, dass die Leute nichts Unbedachtes tun, und sie nach Möglichkeit sogar in ihrer Ansicht bestärken, dass sie Aussicht auf Erfolg haben. Falls sie etwas anderes annehmen, müssen wir damit rechnen, dass sie uns alle umbringen, denn sie haben nichts zu verlieren.« Er sah, dass Lady Vespasia bleich wurde. »Es tut mir leid. Es wäre mir lieber gewesen, das nicht sagen zu müssen, aber ich allein habe keine Möglichkeit, etwas zu unternehmen. Jeder von uns muss die Ruhe bewahren – auch die Dienerschaft. Ich wünschte, ich könnte hinausgehen und ihnen das klarmachen. Unter Umständen geraten alle in Panik, wenn nur ein Einziger die Nerven verliert.«

Lady Vespasia stand auf. Sie schien ein wenig zu schwanken. »Dann werde ich mir den Verrückten auf der Treppe einmal vornehmen und ihn bitten, dass er mir erlaubt, mit der Dienerschaft zu reden. Vielleicht bist du so freundlich, mir bei dem Versuch zu helfen, ihn von dieser Notwendigkeit

Narraway nahm ihren Arm und wandte sich der Königin zu: »Ma’am, Lady Vespasia wird mit Ihrer Dienerschaft sprechen. Es ist äußerst wichtig, dass niemand die Nerven verliert oder übereilt handelt. Ich werde versuchen, die Männer, die uns hier festhalten, dazu zu bringen, dass man ihr das in unser aller Interesse erlaubt. Ich fürchte, dass wir es hier noch eine Weile aushalten müssen.«

»Danke.« Auch wenn die Königin das in erster Linie zu Lady Vespasia sagte, galt der Dank auch Narraway.

»Vielleicht könnte die Dienerschaft alle Anwesenden mit Essen versorgen?«, regte Charlotte an. »Es ist einfacher, wenn man etwas zu tun hat.«

»Glänzender Gedanke«, stimmte ihr Lady Vespasia zu. »Komm, Victor. Wenn die Leute auch nur einen Funken Verstand haben, werden sie einsehen, dass das ein ausgesprochen kluger Einfall ist.«

Sie gingen zur Tür, und er hielt sie ihr auf.

Charlotte sah den beiden mit klopfendem Herzen nach. Sie spürte, wie sich in ihr alles verkrampfte. Sie wandte sich der Königin zu, die sie mit furchtsamen Augen ansah.