Von draußen hörte man keinen Laut … Kein Schuss fiel.
Kurz vor Mitternacht fuhren Pitt und Stoker in einer Droschke zum Haus Sir Gerald Croxdales, um ihm die wichtigsten Beweise für Austwicks Beteiligung an der Manipulation des Geldtransfers vorzulegen, die zu Mulhares Tod geführt hatte und mit deren Hilfe man erreicht hatte, dass Narraway der Veruntreuung von Geldern bezichtigt wurde. Außerdem befanden sich unter den Papieren Berichte über die führenden sozialistischen Revolutionäre, die auf gewaltsame Weise Regierungen, die sie als Unterdrücker-Regimes betrachteten, zu stürzen beabsichtigten
Selbstverständlich enthielt Pitts Aktentasche auch die Liste mit den Namen der ihm inzwischen bekannten Verräter innerhalb des Sicherheitsdienstes.
Sie mussten nahezu fünf Minuten klingeln und klopfen, bis sie hörten, dass an der Haustür die Riegel zurückgeschoben wurden. Ein verschlafener Lakai, der einen Mantel über dem Nachthemd trug, öffnete.
»Sie wünschen, Sir?«, fragte er zurückhaltend.
Pitt wies sich und Stoker aus. »Es handelt sich um einen außerordentlich dringenden Notfall«, sagte er mit Nachdruck. »Das Land ist in Gefahr. Würden Sie bitte den Minister umgehend wecken?«
Der Ton, in dem er das sagte, ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Anweisung und keinesfalls um eine Bitte handelte.
Der Lakai führte die Besucher ins Empfangszimmer. Gut zehn Minuten später tauchte Croxdale notdürftig angekleidet auf. Sein Gesicht war von tiefer Besorgnis erfüllt. Sobald er die Tür geschlossen hatte, fragte er, wobei er den Blick zwischen Pitt und Stoker hin und her wandern ließ: » Was gibt es, meine Herren?«
Angesichts der knappen Zeit beschränkte sich Pitt auf die allernötigsten Erklärungen. » Wir sind den Bewegungen des Geldes, das auf Narraways Konto gelandet ist, auf die Spur gekommen«, sagte er knapp. »Charles Austwick steckt dahinter, und damit trägt er letztlich nicht nur die Verantwortung für den Mord an Mulhare, sondern auch dafür, dass Gower unseren Informanten West getötet hat. Noch weit wichtiger aber ist, dass wir auch hinter die Motive der beiden gekommen sind. Austwick ist ausschließlich deshalb an die Spitze
Verblüfft fragte Croxdale: »Was wollen die denn in drei Teufels Namen da?«
»Osborne House«, gab Pitt knapp zurück.
»Großer Gott im Himmel! Die Königin!« Croxdales Stimme klang erstickt. »Sind Sie Ihrer Sache sicher? Niemand würde doch … aber warum? Das ergibt keinerlei Sinn. Eine solche Tat würde die ganze Welt gegen diese Leute aufbringen.« Er winkte ab und schüttelte den Kopf, als wolle er die Vorstellung als absurd abtun.
»Man hat nicht die Absicht, sie zu töten«, teilte ihm Pitt mit. »Jedenfalls nicht gleich, unter Umständen auch gar nicht.«
»Was dann?« Croxdale musterte ihn, als habe er ihn noch nie richtig gesehen. »Sind Sie sicher, dass Sie wissen, wovon Sie da reden?«
»Ja, Sir«, gab Pitt fest zurück. Es überraschte ihn nicht, dass Croxdale seine Worte anzweifelte. Wenn er nicht selbst die Beweise gesehen hätte, hätte er das ebenso wenig geglaubt wie der Minister. » Wir haben den Weg des für Mulhare bestimmten Geldes verfolgt. Seine Informationen waren äußerst wertvoll. Er hatte uns mitgeteilt, wo wir Nathaniel Byrne finden konnten, eine der treibenden Kräfte hinter mehreren Bombenanschlägen in Irland und London. Selbst im Sicherheitsdienst wusste das so gut wie niemand. Einer der wenigen, die davon Kenntnis hatten, war Austwick. Narraway hatte das Geld angewiesen, damit sich Mulhare der Rache seiner Landsleute entziehen konnte. Diese Gegenleistung für die Information hatte er zur Bedingung gemacht.«
» Von der ganzen Sache habe ich nichts gewusst!«, sagte Croxdale scharf. »Aber warum sollte Austwick so etwas tun? Hat er etwas für sich selbst abgezweigt?«
»Nein. Er wollte Narraway aus dem Sicherheitsdienst hinausdrängen und auch mich, für den Fall, dass ich hinreichend über Narraways Aktionen informiert war, um mir die Geschichte zusammenzureimen.«
» Was gibt es da zusammenzureimen?«, fuhr ihn Croxdale an. »Sie haben noch gar nichts richtig erklärt, Mann. Und was soll das Ganze mit dem Vorgehen von Sozialisten gegen die Königin zu tun haben?«
» Wir haben es hier mit wahnsinnig gewordenen Idealisten zu tun«, gab Pitt zurück. »Sie wollen die Königin als Geisel nehmen, um zu erreichen, dass das Oberhaus abgeschafft wird, und vermutlich auch, dass sie anschließend abdankt. Dem auf diese Weise erreichten Ende der Herrschaft durch erbliche Privilegien soll wohl eine Republik folgen, die ausschließlich durch gewählte Volksvertreter regiert wird.«
»Großer Gott.« Croxdale ließ sich in den nächsten Sessel sinken. Sein Gesicht war aschfahl, seine Hände zitterten. »Sind Sie wirklich ganz sicher? Ohne hieb- und stichfeste Beweise kann ich nicht tätig werden. Wenn ich Militär nach Osborne House in Marsch setzen soll, muss ich mich hundertprozentig darauf verlassen können, dass das gerechtfertigt ist – besser gesagt, ich muss genau wissen, dass es das Einzige ist, was ich tun kann. Falls Sie sich irren, lande ich im Tower und schließlich auf dem Richtblock.«
»Narraway befindet sich bereits in Osborne House, Sir«, teilte ihm Pitt mit.
»Was?« Croxdale fuhr überrascht hoch. »Narraway in …« Er hielt inne und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Können Sie beweisen, was Sie mir hier vortragen, Pitt – ja oder nein? Ich muss das dem Premierminister erklären, bevor
»Gewiss, Sir.« Pitt wies auf die Aktentasche. »Hier habe ich alles Nötige: Berichte, Anweisungen, Briefe. Man muss ein wenig kombinieren, aber es ist alles da.«
»Und Sie haben nicht die geringsten Zweifel? Gott im Himmel, Mann, wenn Sie sich irren, sorge ich dafür, dass Sie mit mir zusammen untergehen!« Croxdale stand auf. »Ich leite alles Erforderliche in die Wege. Ganz offensichtlich gibt es keine Zeit zu vergeuden.« Er ging langsam hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Stoker, der sich während der ganzen Unterhaltung nicht von der Stelle gerührt hatte, runzelte die Brauen.
»Was gibt es?«, fragte Pitt.
Stoker schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht recht, Sir.«
Pitt hielt nach wie vor die Tasche mit den Dokumenten in der Hand. Warum hatte Croxdale sie nicht zu sehen verlangt, warum war er sie nicht zumindest flüchtig durchgegangen? Wieso hatte er die Beweise nicht sehen wollen, wo es doch immerhin um die Möglichkeit von Hochverrat innerhalb des Sicherheitsdienstes ging und er zuvor selbst von Narraways Schuld überzeugt gewesen war? Es war allgemein bekannt, dass Pitt unverrückbar auf Narraways Seite stand. Pitt hätte an Croxdales Stelle mehr Misstrauen an den Tag gelegt.
»Glauben Sie, dass er Austwick von vornherein verdächtigt hat?«, fragte Stoker.
» Wessen? Wenn Austwick in die Manipulation der Überweisung verwickelt war, die man Narraway in die Schuhe geschoben hat, ist er auch am Anschlag auf die Königin beteiligt. Falls Croxdale davon wusste, steckt er auch mit den Leuten
Dann fiel ihm etwas ein: Croxdale hatte gesagt, er habe nicht gewusst, dass Austwick das Geld für Mulhare auf den Weg gebracht habe – dabei hatte er diese Anweisung gegenzeichnen müssen. Bei einem so hohen Betrag genügte eine einzige Unterschrift nicht.
Pitt wandte sich an Stoker. »Er schafft sich jetzt Austwick vom Hals und schiebt ihm die ganze Schuld zu«, sagte er. »Und dann geht es gegen die Königin.«
Im Lampenlicht erkannte er das Entsetzen in Stokers Augen. Ihm war klar, dass er ebenso aussehen musste. Konnte das stimmen? Falls sie sich irrten, würde das ihrer beider Ende bedeuten – falls sie aber Recht hatten und nichts unternahmen, würde es das Ende des Landes bedeuten.
Pitt nickte.
Stoker ging zur Tür und öffnete sie, wobei er den Knauf nur millimeterweise drehte, damit das Schnappschloss kein Geräusch verursachte. Pitt folgte ihm lautlos. Am anderen Ende des Vestibüls war die Tür zum Arbeitszimmer des Ministers angelehnt, und ein Lichtstrahl fiel durch den Spalt auf den dunklen Boden.