Pitt holte Luft, um ihm zu antworten, doch dann ging ihm auf, wie paradox die Situation war. Er lächelte und schwieg.
Er ging mit Stoker und Austwick nach hinten, wo sie sich setzten. Stoker ließ Austwick keine Sekunde aus den Augen,
Pitt überlegte schweigend, wie sie nach ihrer Ankunft in Portsmouth am besten vorgehen konnten. Auf jeden Fall würden sie ein Boot requirieren müssen, ganz gleich, was für eins, um auf die Insel übersetzen zu können.
Er war nach wie vor tief in Gedanken versunken, als der Zug nach etwa einer Viertelstunde die Fahrt verlangsamte und schließlich mit einem mächtigen Dampfstoß stehen blieb. Pitt fuhr hoch und suchte den Schaffner in seinem Dienstabteil auf.
» Was ist los?«, fragte er. » Warum halten wir an? Wo sind wir?«
» Wir laden Post aus, was sonst?«, sagte der Schaffner mit ausgesuchter Geduld. »Das ist unsere Aufgabe. Gehen Sie wieder an Ihren Platz und verhalten Sie sich ruhig, Sir. Wir fahren weiter, wenn es so weit ist.«
» Wo halten Sie denn noch an?«, fragte Pitt mit einer Stimme, die lauter und herrischer war, als er beabsichtigt hatte. Die Situation zerrte unverkennbar an seinen Nerven.
Der Schaffner stand stocksteif vor ihm und sagte mit finsterer Miene: »Überall da, wo wir Post aufnehmen oder ausladen müssen, Sir. Wie ich schon gesagt habe, das ist unsere Aufgabe. Gehen Sie einfach wieder an Ihren Platz, Sir.«
Pitt nahm seine Dienstmarke heraus und hielt sie dem Mann unter die Nase. »Wir sind in einem äußerst dringenden Notfall unterwegs. Ich handele im Auftrag der Königin und muss vor Sonnenaufgang auf der Isle of Wight sein. Laden Sie die Post auf dem Rückweg aus, oder lassen Sie sie vom nächsten Zug aufnehmen, der durchkommt.«
Der Mann sah Pitt mit einer Mischung aus Stolz und Abscheu an. »Auch ich handele im Auftrag der Königin, Sir, denn ich befördere die königliche Post. Sie kommen nach Portsmouth, wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind. Wie ich schon
Pitt spürte, wie unbeherrschter Zorn in ihm aufstieg und er Lust bekam, den Mann zu ohrfeigen. Das aber wäre ungerecht gewesen, denn er tat nur seine Pflicht. Er hatte keine Vorstellung, wer Pitt war, außer irgendeine Art Polizeibeamter.
Durfte er ihm auch nur einen Teil der Wahrheit enthüllen? Nein. Man würde ihn für geistesgestört halten. Er konnte nichts beweisen und würde das Ganze mit einem solchen Vorgehen nur noch mehr verzögern. Voll Entsetzen kam ihm die Erinnerung an seine letzte Bahnfahrt und deren schauerliches Ende. Unwillkürlich trat ihm das Bild eines zerschmetterten Körpers am Bahndamm vor Augen. Gott sei Dank hatte er Gower wenigstens nicht in diesem Zustand gesehen.
Er kehrte an seinen Platz zurück und setzte sich wieder.
»Sir«, sagte Stoker.
»Wir halten an jedem Bahnhof an«, sagte Pitt, bemüht, seine Stimme gleichmütig klingen zu lassen. »Ohne ihm die Wahrheit zu sagen, kann ich ihn nicht dazu bringen, das nicht zu tun.« Mit schiefem Lächeln fügte er hinzu: »Der Zug befördert die königliche Post, und der darf nichts im Wege stehen.«
Stoker setzte an, als wolle er etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Es kostete Pitt nicht die geringste Mühe, alles, was er empfand, auf seinem Gesicht abzulesen.
Die Fahrt ging quälend langsam voran. Keiner sprach mehr ein Wort, bis der Zug schließlich im Bahnhof von Portsmouth anhielt. Inzwischen begann der Himmel sich im Osten hell zu färben. Austwick machte ihnen keine Schwierigkeiten, während sie durch die noch nahezu verlassen daliegenden Straßen zum Hafen gingen, wo sie ein großes Ruderboot fanden, mit dem sie übersetzen konnten.
Die See war kabbelig, und eine kräftige Brise wehte. Unter diesen Bedingungen zu rudern war Schwerarbeit, und sie mussten sich mächtig in die Riemen legen, um voranzukommen.
Schließlich erreichten sie einen Landesteg, machten das Boot fest und eilten dann sogleich Osborne House entgegen, das von ferne über die Wipfel der noch kahlen Bäume hinweg zu erkennen war. Sie schritten so rasch aus, wie sie konnten, denn weit und breit sahen sie niemanden, von dem sie ein Transportmittel hätten mieten oder sich leihen können.
Die Sonne stand schon über dem Horizont, als sie die Grenze des Anwesens erreichten. Die wellige Parklandschaft und der grandiose Palast lagen schlafend vor ihnen. Nichts außer Vogelgezwitscher unterbrach die Stille um sie herum.
Einen Augenblick lang beschlichen Pitt entsetzliche Zweifel. War das Ganze nichts als ein ganz und gar unwirklicher ungeheuerlicher Alptraum? Hatten sie womöglich alles falsch verstanden? Stand er im Begriff, bei der Königin hereinzuplatzen und sich endgültig zum Narren zu machen?
Stoker schritt weiterhin kräftig aus, wobei er Austwick nach wie vor fest am Arm hielt.
In dem ganzen Gebäude rührte sich nichts. Sicherlich aber gab es dort doch selbst dann irgendeine Art Wache, wenn sich Pitt die ganze Verschwörung nur eingebildet haben sollte?
Als sie das Tor erreichten, trat ein Mann vor. Er trug eine Livree, die ihm mehr um die Glieder schlotterte, als dass sie ordentlich saß. Zwar nahm er eine Art Habachtstellung ein, doch merkte man, dass er kein Soldat war. In seinen Augen blitzte Überheblichkeit.
»Se könn’n hier nich’ rein«, teilte er ihnen kurz angebunden mit. »Das gehört der Königin. Se dürf ’n es sich gerne von auß’n anseh’n, aber kein’n Schritt weiter, verstand’n?«
Pitt kannte das Gesicht des Mannes. Er versuchte sich an den Namen zu erinnern, doch er fiel ihm nicht ein. Er war so
»Das geht in Ordnung, McLeish«, sagte dieser mit leicht zitternder und ein wenig belegter Stimme. »Die Herren gehören zu mir. Wir müssen hinein.«
Der Mann zögerte.
»Und zwar so schnell wie möglich«, fügte Pitt hinzu. »Hinter uns kommen noch mehr. In einer oder zwei Stunden ist alles vorbei.«
»Na schön«, sagte McLeish, wandte sich auf dem Absatz um und ging ihnen voraus.
»Fragen Sie ihn nach der Königin«, zischte Pitt Austwick zu. »Machen Sie jetzt bloß nicht schlapp. Gehängt zu werden ist kein schöner Tod.«
Da Austwick strauchelte, riss Stoker ihn hoch.
Austwick räusperte sich. »Geht es der Königin gut? Ich meine … ist sie in der Lage, Schriftstücke zu unterzeichnen?«
»Selbstverständlich«, gab McLeish munter zur Antwort. »Übrig’ns sin’ da gestern drei Leute aufgetaucht, ’n Mann un’ zwei Frauen. Uns is’ nix andres übriggeblieb’n, wie se reinzulass’n, weil se sonst imstande gewes’n wär’n, Alarm zu schlag’n. Aber die mach’n kein’n Ärger. Alles läuft best’ns.«
Jetzt hatten sie fast den Eingang zum Palast erreicht.
Austwick zögerte.
Die Sonne schickte ihre Strahlen durch eine Lücke zwischen den Bäumen. Aus dem Gebäude hörte man kein Lebenszeichen, keinen Laut, aber vermutlich dämpften die mächtigen Flügel des Portals alle Geräusche.
Jemand musste sie beobachtet haben, denn das Portal öffnete sich, und ein breitschultriger Mann mit einer Schrotflinte über der Schulter stellte sich ihnen in den Weg.
Mit hoch erhobenem Kopf trat Austwick vor. Anfangs wirkte seine Stimme ein wenig brüchig, wurde aber immer fester.
»Guten Morgen, Portman. Ich heiße Charles Austwick und vertrete Sir Gerald Croxdale sowie alle Sozialisten unseres Landes.«
»Höchste Zeit, dass Sie kommen!«, sagte Portman, und es klang wie ein Verweis. »Haben Sie die Dokumente?«
»Wir bringen sie der Königin«, sagte Pitt rasch. »Lassen Sie uns ein. Es ist fast vorbei.« Er bemühte sich, eine gewisse Erregung in seine Stimme zu legen.
Portman lächelte. »In Ordnung.« Er hob den Arm, über dem die Flinte hing, zu einem Siegesgruß.
Stoker trat vor und versetzte ihm einen Schlag, in den er sein ganzes Gewicht legte. Er traf ihn in den Solarplexus, so dass der Mann rückwärts ins Innere des Gebäudes taumelte. Dort krümmte er sich vor Schmerzen, wobei seine Flinte zu Boden fiel. Sofort griff Stoker danach und hob sie auf.