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Ich las damals die Odyssee wieder, die ich erstmals in der Schule gelesen und als die Geschichte einer Heimkehr in Erinnerung behalten hatte. Aber es ist nicht die Geschichte einer Heimkehr. Wie sollten die Griechen, die wissen, daß man nicht zweimal in denselben Fluß steigt, auch an Heimkehr glauben. Odysseus kehrt nicht zurück, um zu bleiben, sondern um erneut aufzubrechen. Die Odyssee ist die Geschichte einer Bewegung, zugleich zielgerichtet und ziellos, erfolgreich und vergeblich. Was ist die Geschichte des Rechts anderes!

5

Mit der Odyssee habe ich angefangen. Ich las sie, nachdem Gertrud und ich uns getrennt hatten. In vielen Nächten konnte ich nur wenige Stunden schlafen; ich lag wach, und wenn ich das Licht anmachte und ein Buch zur Hand nahm, fielen mir die Augen zu, und wenn ich das Buch weglegte und das Licht ausschaltete, war ich wieder wach. So las ich laut. Dabei fielen mir die Augen nicht zu. Und weil im wirren, von Erinnerungen und Träumen durchsetzten, in quälenden Zirkeln kreisenden, halbwachen Nachdenken über meine Ehe und meine Tochter und mein Leben Hanna immer wieder dominierte, las ich für Hanna. Ich las für Hanna auf Kassetten.

Bis ich die Kassetten abschickte, dauerte es mehrere Monate. Zuerst wollte ich keine Teile schicken und wartete, bis ich die ganze Odyssee aufgenommen hatte. Dann wurde mir fraglich, ob Hanna die Odyssee hinreichend interessant finden würde, und ich nahm auf, was ich nach der Odyssee las, Erzählungen von Schnitzler und Tschechow. Dann schob ich vor mir her, bei dem Gericht anzurufen, von dem Hanna verurteilt worden war, und herauszufinden, wo sie ihre Strafe verbüßte. Schließlich hatte ich alles zusammen, Hannas Adresse in einem Gefängnis in der Nähe der Stadt, in der ihr der Prozeß gemacht und sie verurteilt worden war, ein Kassettengerät und die Kassetten, von Tschechow über Schnitzler zu Homer numeriert. Und schließlich schickte ich das Paket mit dem Kassettengerät und den Kassetten auch ab.

Ich habe unlängst das Heft gefunden, in das ich eintrug, was ich für Hanna im Lauf der Jahre aufgenommen habe. Die ersten zwölf Titel sind offensichtlich gleichzeitig notiert; ich habe wohl zunächst drauflos gelesen und dann gemerkt, daß ich ohne Notizen nicht behalte, was ich schon gelesen habe. Bei den folgenden Titeln findet sich manchmal ein Datum, manchmal keines, aber auch ohne Daten weiß ich, daß ich Hanna die erste Sendung im achten und die letzte im achtzehnten Jahr ihrer Haft geschickt habe. Im achtzehnten Jahr wurde ihrem Gnadengesuch stattgegeben.

Weithin las ich Hanna vor, was ich selbst gerade lesen mochte. Bei der Odyssee fiel es mir anfangs nicht leicht, beim lauten Vorlesen so konzentriert aufzunehmen wie beim leisen Lesen für mich. Das gab sich. Als Nachteil des Vorlesens blieb, daß es länger dauerte. Aber dafür haftete das Vorgelesene auch besser im Gedächtnis. Noch heute erinnere ich mich an manches besonders deutlich.

Ich las aber auch vor, was ich schon kannte und liebte. So bekam Hanna viel Keller und Fontane zu hören, Heine und Mörike. Lange wagte ich mich nicht ans Vorlesen von Gedichten, aber dann machte es mir viel Spaß, und ich lernte eine ganze Reihe der vorgelesenen Gedichte auswendig. Ich kann sie noch heute aufsagen.

Insgesamt weisen die Titel des Hefts ein großes bildungsbürgerliches Urvertrauen aus. Ich erinnere mich auch nicht, mir jemals die Frage gestellt zu haben, ob ich über Kafka, Frisch, Johnson, Bachmann und Lenz hinausgehen und experimentelle Literatur, Literatur, in der ich die Geschichte nicht erkenne und keine der Personen mag, vorlesen sollte. Es verstand sich für mich, daß experimentelle Literatur mit dem Leser experimentiert, und das brauchten weder Hanna noch ich.

Als ich selbst zu schreiben begann, las ich ihr auch das vor. Ich wartete, bis ich mein handschriftliches Manuskript diktiert, das maschinenschriftliche überarbeitet und das Gefühl hatte, jetzt sei es fertig. Beim Vorlesen merkte ich, ob das Gefühl stimmte. Wenn nicht, konnte ich alles noch mal überarbeiten und eine neue Aufnahme über die alte spielen. Aber ich machte das nicht gerne. Ich wollte mit dem Vorlesen abschließen. Hanna wurde die Instanz, für die ich noch mal alle meine Kräfte, alle meine Kreativität, alle meine kritische Phantasie bündelte. Danach konnte ich das Manuskript an den Verlag schicken.

Ich habe auf den Kassetten keine persönlichen Bemerkungen gemacht, nicht nach Hanna gefragt, nicht von mir berichtet. Ich las den Titel vor, den Namen des Autors und den Text. Wenn der Text zu Ende war, wartete ich einen Moment, klappte das Buch zu und drückte die Stop-Taste.

6

Im vierten Jahr unseres wortreichen, wortkargen Kontakts kam ein Gruß. »Jungchen, die letzte Geschichte war besonders schön. Danke. Hanna.«

Das Papier war liniert, eine aus einem Schreibheft herausgerissene und glattgeschnittene Seite. Der Gruß stand ganz oben und füllte drei Zeilen. Er war mit blauem, schmierendem Kugelschreiber geschrieben. Hanna hatte den Stift mit viel Kraft geführt; die Schrift drückte auf die Rückseite durch. Auch die Adresse hatte sie mit viel Kraft geschrieben; der Abdruck fand sich lesbar auf der unteren und auf der oberen Hälfte des in der Mitte gefalteten Papiers.

Auf den ersten Blick hätte man meinen können, es sei eine Kinderschrift. Aber was an der Schrift von Kindern ungelenk und unbeholfen ist, war hier gewaltsam. Man sah den Widerstand, den Hanna überwinden mußte, um die Linien zu Buchstaben und die Buchstaben zu Wörtern zu fügen. Die Kinderhand will hierhin und dorthin abschweifen und muß in der Bahn der Schrift gehalten werden. Hannas Hand wollte nirgendwohin und mußte vorangezwungen werden. Die Linien, die die Buchstaben formten, setzten immer wieder neu an, beim Aufstrich, beim Abstrich, vor den Bogen und Schleifen. Und jeder Buchstabe war neu erkämpft und hatte eine neue Schrägoder Stellrichtung, oft auch eine falsche Höhe und Breite.

Ich las den Gruß und war erfüllt von Freude und Jubel. »Sie schreibt, sie schreibt!« Was immer ich in all den Jahren über Analphabetismus hatte finden können, hatte ich gelesen. Ich wußte von der Hilflosigkeit bei alltäglichen Lebensvollzügen, beim Finden eines Wegs und einer Adresse oder beim Wählen eines Gerichts im Restaurant, von der Ängstlichkeit, mit der der Analphabet vorgegebenen Mustern und bewährten Routinen folgt, von der Energie, die das Verbergen der Lese- und Schreibunfähigkeit erfordert und vom eigentlichen Leben abzieht. Analphabetismus ist Unmündigkeit. Indem Hanna den Mut gehabt hatte, lesen und schreiben zu lernen, hatte sie den Schritt aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit getan, einen aufklärerischen Schritt.

Dann betrachtete ich Hannas Schrift und sah, wieviel Kraft und Kampf sie das Schreiben gekostet hatte. Ich war stolz auf sie. Zugleich war ich traurig über sie, traurig über ihr verspätetes und verfehltes Leben, traurig über die Verspätungen und Verfehlungen des Lebens insgesamt. Ich dachte, wenn die rechte Zeit verpaßt ist, wenn einer etwas zu lange verweigert hat, wenn einem etwas zu lange verweigert wurde, kommt es zu spät, selbst wenn es schließlich mit Kraft angegangen und mit Freude empfangen wird. Oder gibt es »zu spät« nicht, gibt es nur »spät«, und ist »spät« allemal besser als »nie«? Ich weiß es nicht.

Nach dem ersten Gruß kamen die nächsten in steter Folge. Immer waren es wenige Zeilen, ein Dank, ein Wunsch, vom selben Autor mehr oder auch nichts mehr zu hören, eine Bemerkung über einen Autor oder ein Gedicht oder eine Geschichte oder eine Person aus einem Roman, eine Beobachtung aus dem Gefängnis. »Im Hof blühen schon die Forsythien« oder »ich mag, daß es in diesem Sommer so viele Gewitter gibt« oder »aus dem Fenster sehe ich, wie sich die Vögel zum Flug nach Süden sammeln« — oft haben mich erst Hannas Mitteilungen die Forsythien, Sommergewitter oder Vogelscharen wahrnehmen lassen. Ihre Bemerkungen über Literatur trafen oft erstaunlich genau. »Schnitzler bellt, Stefan Zweig ist ein toter Hund« oder »Keller braucht eine Frau« oder »die Gedichte von Goethe sind wie kleine Bilder in schönen Rahmen« oder »Lenz schreibt sicher auf der Schreibmaschine«. Da sie über die Autoren nichts wußte, setzte sie sie als Zeitgenossen voraus, solange es sich nicht eindeutig verbot. Ich war verblüfft, wieviel ältere Literatur sich in der Tat lesen läßt, als sei sie heutig, und wer nichts über Geschichte weiß, kann erst recht in den Lebensumständen früherer Zeiten einfach die Lebensumstände ferner Gegenden sehen.