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»Und die letzten Tage?«

»Sie war wie immer.«

»Kann ich sie sehen?«

Sie nickte, blieb aber sitzen. »Kann einem die Welt in Jahren der Einsamkeit so unerträglich werden? Bringt man sich lieber um, als aus dem Kloster, aus der Einsiedelei wieder in die Welt zurückzukehren?« Sie wandte sich mir zu. »Frau Schmitz hat nicht geschrieben, warum sie sich umgebracht hat. Und Sie sagen nicht, was zwischen Ihnen beiden gewesen ist und vielleicht dazu geführt hat, daß Frau Schmitz sich in der Nacht vor dem Tag umbringt, an dem Sie sie abholen wollten.« Sie faltete das Blatt zusammen, steckte es ein, stand auf und strich den Rock glatt. »Mich trifft ihr Tod, wissen Sie, und im Moment bin ich zornig, auf Frau Schmitz und auf Sie. Aber gehen wir.«

Sie ging wieder voraus, diesmal wortlos. Hanna lag auf der Krankenstation in einer kleinen Kammer. Wir konnten gerade zwischen Wand und Trage treten. Die Leiterin schlug das Tuch zurück.

Hanna war ein Tuch um den Kopf gebunden worden, um das Kinn bis zum Eintritt der Todesstarre hochzuhalten. Das Gesicht war weder besonders friedlich noch besonders qualvoll. Es sah starr und tot aus. Als ich lange hinschaute, schien im toten Gesicht das lebende auf, im alten das junge. So muß es alten Ehepaaren gehen, dachte ich; für sie bleibt im alten Mann der junge aufgehoben und für ihn die Schönheit und Anmut der jungen Frau in der alten. Warum hatte ich den Aufschein vor einer Woche nicht gesehen?

Ich mußte nicht weinen. Als die Leiterin mich nach einer Welle fragend ansah, nickte ich, und sie breitete das Tuch wieder über Hannas Gesicht.

11

Es wurde Herbst, bis ich Hannas Auftrag erledigte. Die Tochter lebte in New York, und ich nahm eine Tagung in Boston zum Anlaß, ihr das Geld zu bringen: einen Scheck über den Betrag des Sparbuchs und die Teedose mit dem Bargeld. Ich hatte ihr geschrieben, mich als Rechtshistoriker vorgestellt und den Prozeß erwähnt. Ich wäre dankbar, sie sprechen zu können. Sie lud mich zum Tee ein.

Ich fuhr mit dem Zug von Boston nach New York. Die Wälder prunkten in Braun, Gelb, Orange, Rotbraun und Braunrot und im flammenden, leuchtenden Rot des Ahorn. Mir kamen die Herbstbilder in Hannas Zelle in den Sinn. Als ich vom Rollen der Räder und Schaukeln des Wagens müde wurde, träumte ich von Hanna und mir in einem Haus in den herbstbunten Hügeln, durch die der Zug fuhr. Hanna war älter, als ich sie kennengelernt, und jünger, als ich sie wiedergetroffen hatte, älter als ich, schöner als früher, mit dem Alter noch gelassener in ihren Bewegungen und in ihrem Körper noch mehr zu Hause. Ich sah sie aus dem Auto steigen und Einkaufstüten auf die Arme nehmen, sah sie durch den Garten ins Haus gehen, sah sie die Einkaufstüten abstellen und vor mir die Treppe hinaufsteigen. Die Sehnsucht nach Hanna wurde so stark, daß sie weh tat. Ich wehrte mich gegen die Sehnsucht, hielt ihr entgegen, sie gehe an Hannas und meiner Realität völlig vorbei, an der Realität unseres Alters, unserer Lebens-umstände. Wie sollte Hanna, die nicht englisch sprach, in Amerika leben? Und Auto fahren konnte sie auch nicht.

Ich wachte auf und wußte wieder, daß Hanna tot war. Ich wußte auch, daß die Sehnsucht sich an ihr festmachte, ohne ihr zu gelten. Es war die Sehnsucht danach, nach Hause zu kommen.

Die Tochter lebte in New York in einer kleinen Straße in der Nähe des Central Park. Die Straße war beidseitig von alten Reihenhäusern aus dunklem Sandstein gesäumt, bei denen Treppen aus demselben dunklen Sandstein in den ersten Stock führten. Das gab ein strenges Bild, Haus hinter Haus, die Fassaden nahezu gleich, Treppe hinter Treppe, Straßenbäume, erst unlängst in regelmäßigen Abständen gepflanzt, mit wenigen gelben Blättern an dünnen Ästen.

Die Tochter servierte den Tee vor großen Fenstern mit Blick in die kleinen Gärten des Häusergevierts, mal grün und bunt und mal nur eine Ansammlung von Gerümpel. Sobald wir saßen, der Tee eingeschenkt, der Zucker hineingegeben und umgerührt worden war, wechselte sie vom Englischen, worin sie mich begrüßt hatte, ins Deutsche. »Was führt Sie zu mir?« Sie fragte nicht freundlich und nicht unfreundlich; der Ton war von äußerster Sachlichkeit. Alles an ihr wirkte sachlich, Haltung, Gestik, Kleidung. Das Gesicht war eigentümlich alterslos. So sehen Gesichter aus, die geliftet worden sind. Aber vielleicht war es auch unter dem frühen Leid erstarrt — ich versuchte vergebens, mich an ihr Gesicht während des Prozesses zu erinnern.

Ich erzählte von Hannas Tod und Auftrag.

»Warum ich?«

»Ich vermute, weil Sie die einzige Überlebende sind.«

»Was soll ich damit?«

»Was immer Sie für sinnvoll halten.«

»Und Frau Schmitz damit die Absolution geben?«

Zuerst wollte ich abwehren, aber Hanna verlangte in der Tat viel. Die Jahre der Haft sollten nicht nur auferlegte Sühne sein; Hanna wollte ihnen selbst einen Sinn geben, und sie wollte mit dieser ihrer Sinngebung anerkannt werden. Ich sagte das.

Sie schüttelte den Kopf. Ich wußte nicht, ob sie damit meine Deutung ablehnen oder Hanna die Anerkennung verweigern wollte.

»Können Sie ihr nicht die Anerkennung ohne die Absolution geben?«

Sie lachte. »Sie mögen sie, nicht wahr? Wie ist eigentlich ihr Verhältnis zueinander gewesen?«

Ich zögerte einen Moment. »Ich war ihr Vorleser. Es fing an, als ich fünfzehn war, und ging weiter, als sie im Gefängnis saß.«

»Wie haben Sie.«

»Ich habe ihr Kassetten geschickt. Frau Schmitz war fast ihr ganzes Leben lang Analphabetin; sie hat erst im Gefängnis lesen und schreiben gelernt.«

»Warum haben Sie das alles gemacht?«

»Wir hatten, als ich fünfzehn war, eine Beziehung.«

»Sie meinen, Sie haben zusammen geschlafen?«

»Ja.«

»Was ist diese Frau brutal gewesen. Haben Sie's verkraftet, daß sie Sie mit fünfzehn. Nein, Sie sagen selbst, daß Sie ihr wieder vorzulesen begonnen haben, als sie im Gefängnis war. Haben Sie jemals geheiratet?«

Ich nickte.

»Und die Ehe war kurz und unglücklich, und Sie haben nicht wieder geheiratet, und das Kind, wenn's eines gibt, ist im Internat.«

»Das trifft für Tausende zu; dazu braucht es keine Frau Schmitz.«

»Hatten Sie, wenn Sie in den letzten Jahren mit ihr Kontakt hatten, jemals das Gefühl, daß sie wußte, was sie Ihnen angetan hat?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls wußte sie, was sie anderen im Lager und auf dem Marsch angetan hat. Sie hat mir das nicht nur gesagt, sie hat sich in den letzten Jahren im Gefängnis auch intensiv damit beschäftigt.« Ich berichtete, was mir die Leiterin der Anstalt erzählt hatte.

Sie stand auf und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. »Um wieviel Geld geht es denn?«

Ich ging zur Garderobe, wo ich meine Tasche gelassen hatte, und kam mit Scheck und Teedose zurück. »Hier.«

Sie sah auf den Scheck und legte ihn auf den Tisch. Die Dose öffnete sie, leerte sie, schloß sie wieder und hielt sie in der Hand, den Blick fest darauf gerichtet. »Als Mädchen hatte ich eine Teedose für meine Schätze. Keine wie diese, obwohl es diese Teedosen damals auch schon gab, sondern eine mit kyrillischen Schriftzeichen, der Deckel nicht zum Reindrücken, sondern zum Drüberstülpen. Ich habe sie bis ins Lager gebracht, dort wurde sie mir eines Tages gestohlen.«

»Was war drin?«

»Was wohl. Eine Locke von unserem Pudel, Eintrittskarten von Opern, zu denen mein Vater mich mitgenommen hat, ein Ring, irgendwo gewonnen oder in einer Packung gefunden — gestohlen wurde mir die Dose nicht wegen des Inhalts. Die Dose selbst und was man mit ihr machen konnte, war im Lager viel wert.« Sie stellte die Dose auf den Scheck. »Haben Sie einen Vorschlag für die Verwendung des Gelds? Es für irgendwas zu verwenden, was mit dem Holocaust zu tun hat, käme mir wirklich wie eine Absolution vor, die ich weder erteilen kann noch will.«