Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: «Ich habe nämlich bei euch angerufen, und Greg hat mir gesagt, dass du hergefahren bist, sozusagen um alles in Besitz zu nehmen. Ich dachte, ich könnte dir helfen.»
«Wirst du nicht im Büro gebraucht?», fragte Susan. «Oder kannst du dir nach Lust und Laune frei nehmen?»
«Eine Beerdigung war schon immer ein anerkannter Grund, um blauzumachen. Und diese Beerdigung ist noch dazu eine richtige. Außerdem sind die Leute von einem Mord immer fasziniert. Aber in Zukunft werde ich sowieso nicht mehr oft im Büro sein - als reicher Mann habe ich das nicht mehr nötig. Da werde ich Besseres zu tun haben.» Nach einer Pause fügte er grinsend hinzu: «Wie Greg.»
Susan betrachtete ihren Cousin nachdenklich. Sie hatte ihn bislang nur selten gesehen, und bei den wenigen Begegnungen hatte sie ihn nie richtig ausmachen können.
«Was ist der eigentliche Grund, warum du hergekommen bist, George?», fragte sie.
«Vielleicht, um mich ein bisschen als Detektiv zu betätigen. Ich hab mir über die letzte Beerdigung, auf der wir waren, viel Gedanken gemacht. An dem Tag hat Tante Cora ja ziemlich für Aufruhr gesorgt. Ich würde gerne wissen, ob sie die Worte nur aus Jux und Tollerei in die Runde geworfen hat und aus schierer Lebensfreude, oder ob da wirklich etwas dahinter steckt.
Was steht denn in dem Brief, in den du so vertieft warst, als ich reingekommen bin?»
Susans Antwort kam gedehnt. «Das ist ein Brief, den Onkel Richard ihr geschrieben hatte, nachdem er bei ihr zu Besuch gewesen war.»
Wie schwarz Georges Augen doch waren! Sie hatte immer gedacht, er habe braune Augen, aber sie waren schwarz, und schwarze Augen hatten etwas Undurchdringliches. Sie verbargen die Gedanken, die dahinter lagen.
«Steht was Interessantes drin?», fragte George beiläufig.
«Eigentlich nicht ...»
«Darf ich mal lesen?»
Er streckte die Hand aus. Nach kurzem Zögern reichte sie ihm das Blatt.
Er las den Brief leise und monoton murmelnd vor. «Es hat mich gefreut, dich nach all den Jahren wieder zu sehen ... sahst sehr gut aus ... hatte eine gute Heimreise und war bei der Rückkehr nicht allzu müde ...»
Plötzlich wurde seine Stimme schärfer. «Bitte erwähne niemandem gegenüber, was ich dir gesagt habe. Ich könnte mich täuschen. Dein dich liebender Bruder Richard.»
Er sah zu Susan. «Was meint er damit?»
«Wer weiß? Er könnte sich damit bloß auf seine Gesundheit beziehen. Oder es könnte sich um Klatsch über einen gemeinsamen Bekannten handeln.»
«Natürlich, es könnte alles Mögliche sein. Es ist nicht eindeutig - aber es gibt zu denken ... Was kann er Cora erzählt haben? Weiß jemand, was er ihr gesagt haben könnte?»
«Vielleicht Miss Gilchrist», meinte Susan nachdenklich. «Ich glaube, sie hat mitgehört.»
«Ach ja, die Hausdame. Wo ist sie denn?»
«Im Krankenhaus. Mit Arsenvergiftung.»
George starrte sie an.
«Du machst Witze!»
«Nein. Jemand hat ihr einen vergifteten Hochzeitskuchen geschickt.»
George ließ sich auf einen Stuhl sinken und pfiff durch die Zähne.
«Es sieht ganz so aus, als hätte der gute Onkel Richard sich nicht getäuscht», sagte er.
III
Am folgenden Vormittag stand Inspector Morton vor der Haustür. Er war um die vierzig und hatte eine ruhige, zurückhaltende Art, aber seine Augen blitzten hellwach.
«Ihnen ist klar, worum es hier geht, Mrs. Banks?», sagte er. Susan hörte den weichen Dialekt der Region heraus. «Dr. Proctor hat Ihnen schon von Miss Gilchrist berichtet. Die Krümel vom Hochzeitskuchen, die er mitgenommen hat, sind analysiert worden. Sie enthalten Spuren von Arsen.»
«Das heißt, jemand hat es darauf angelegt, sie zu vergiften?»
«Es scheint so. Miss Gilchrist kann uns nicht weiterhelfen. Sie wiederholt nur ständig, das wäre unmöglich - niemand würde ihr so etwas antun. Aber irgendjemand hat es doch getan. Können Sie uns etwas sagen, das Licht auf die Sache wirft?»
Susan schüttelte den Kopf. «Ich bin sprachlos», sagte sie. «Hilft denn der Poststempel nicht weiter? Oder die Schrift?»
«Sie vergessen, dass das Packpapier wahrscheinlich verbrannt wurde. Außerdem bestehen Zweifel daran, dass das Päckchen überhaupt mit der Post kam. Andrew, der die Pakete ausfährt, kann sich nicht erinnern, es hier abgeliefert zu haben. Seine Runde ist zwar sehr groß und er ist sich nicht sicher, aber ... es ist doch sehr fraglich.»
«Aber - wie soll es sonst hergekommen sein?»
«Es ist ja denkbar, dass jemand ein altes Stück braunes Pack-papier mit Miss Gilchrists Namen und einer entwerteten Marke verwendet hat und das Päckchen durch den Briefschlitz steckte oder von Hand hinter die Tür legte, um den Eindruck zu erwecken, als wäre es zugestellt worden.»
Dann wurde sein Ton persönlicher. «Das mit dem Hochzeitskuchen ist eine schlaue Idee, wissen Sie. Einsame ältere Damen sind sehr sentimental, wenn es um Hochzeitskuchen geht, und freuen sich, wenn man an sie denkt. Eine Schachtel Konfekt oder so etwas hätte vielleicht Misstrauen erregt.»
«Miss Gilchrist hat lange überlegt, wer es ihr wohl geschickt haben könnte», berichtete Susan nachdenklich. «Aber sie war überhaupt nicht misstrauisch. Wie Sie sagen, sie hat sich gefreut und fühlte sich - doch, geschmeichelt.»
Dann fiel ihr eine Frage ein. «War genug Gift drin, um sie ... zu töten?»
«Das lässt sich schwer sagen, bis wir die Ergebnisse der quantitativen Analyse haben. Es würde vor allem davon abhängen, ob Miss Gilchrist das ganze Stück gegessen hat. Offenbar glaubt sie, dass noch ein Rest da sein müsste. Können Sie sich erinnern?»
«Nein - ich weiß es nicht. Sie hat mir davon angeboten, aber ich habe abgelehnt, und dann hat sie davon probiert und gesagt, er sei sehr gut, aber ich weiß nicht mehr, ob sie alles aufgegessen hat.»
«Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gerne nach oben gehen, Mrs. Banks.»
«Natürlich.»
Sie folgte dem Inspector in Miss Gilchrists Zimmer. «Ich fürchte, es ist hier nicht gerade sehr aufgeräumt», entschuldigte sie sich. «Aber mit der Beerdigung meiner Tante und allem hatte ich keine Zeit Ordnung zu schaffen, und nachdem Dr. Proctor hier gewesen war, hielt ich es für besser, das Zimmer zu lassen, wie es ist.»
«Das war sehr klug von Ihnen, Mrs. Banks. Nicht jeder wäre so umsichtig gewesen.»
Er ging zum Bett, fuhr mit der Hand unter das Kopfkissen und hob es ein Stück an. Auf seinem Gesicht erschien ein kleines Lächeln.
«Da ist es ja», sagte er.
Auf dem Laken lag ein mittlerweile zerdrücktes Stück Hochzeitskuchen.
«Komisch», staunte Susan.
«Aber gar nicht. Vielleicht kennt Ihre Generation diese Sitte nicht mehr. Heutzutage sind junge Damen ja nicht mehr so versessen aufs Heiraten. Aber es ist ein alter Brauch. Wenn ein Mädchen sich ein Stück Hochzeitskuchen unters Kissen legt, träumt sie von ihrem zukünftigen Ehemann.»
«Aber Miss Gilchrist hat doch bestimmt nicht ...»
«Sie wollte es uns nicht sagen, sicher, weil sie sich töricht vorkam, das in ihrem Alter noch zu machen. Aber ich hatte da so eine Ahnung.» Seine Miene wurde wieder nüchterner. «Ein Glück für sie, dass sie so töricht war, sonst wäre sie heute vielleicht nicht mehr am Leben.»
«Aber wer könnte sie denn umbringen wollen?»
Sein Blick begegnete ihrem. Es war ein merkwürdig spekulativer Blick, der Susan beklommen machte.
«Sie wissen es nicht?», fragte er.
«Nein, natürlich nicht.»
«Dann werden wir’s wohl herausfinden müssen», meinte Inspector Morton.
ZWÖLFTES KAPITEL
Zwei ältere Herren saßen in einem sehr modern möblierten Raum beisammen. Die Einrichtung hatte keinerlei Rundungen oder Kurven. Alles war eckig. Praktisch die einzige Ausnahme bildete Hercule Poirot selbst, der fast nur aus Rundungen zu bestehen schien. Sein Bauch war wohl gerundet, seine Kopfform erinnerte an ein Ei, sein Schnurrbart zwirbelte sich schwungvoll nach oben.