«Ich hätte es nicht ertragen! Aber ich hätte das Geld irgendwie zusammenbekommen - oder jemanden gefunden, der mich unterstützt.»
«Ah, natürlich! Ihr Onkel, dem dieses Haus gehörte, war vermögend. Selbst wenn er nicht gestorben wäre, hätte er Sie doch, wie man bei Ihnen sagt, gesponsert.»
«Nein, das hätte er nicht. Onkel Richard war etwas altmodisch, was Frauen betraf. Wenn ich ein Mann gewesen wäre ...» Ein zorniger Ausdruck zog über ihr Gesicht. «Ich habe mich sehr über ihn geärgert.»
«Ich verstehe - ja, ich verstehe ...»
«Die Alten sollten der Jugend nicht im Weg stehen. Ich ... oh, Verzeihung.»
Hercule Poirot lachte unbekümmert und zwirbelte seinen Schnurrbart.
«Ich bin alt, ja. Aber ich behindere die Jugend nicht. Es gibt niemanden, der auf meinen Tod zu warten braucht.»
«Ein schrecklicher Gedanke.»
«Aber Sie sind Realistin, Madame. Lassen Sie uns doch eingestehen, dass die Welt voller junger - oder auch nicht mehr ganz so junger - Menschen ist, die nur geduldig oder ungeduldig auf den Tod eines Menschen warten, dessen Ableben ihnen zu Wohlstand verhilft - oder zumindest zu einer Chance.»
«Eine Chance!» Susan seufzte tief. «Mehr braucht man nicht.»
Poirot hatte den Blick ein wenig schweifen lassen und sagte jetzt munter: «Und hier kommt Ihr Mann, um sich unserem kleinen Kreise anzuschließen ... Wir sprechen gerade über Chancen, Mr. Banks. Über die wunderbaren Chancen - die man mit beiden Händen ergreifen muss. Wie weit darf man gehen, ohne sein Gewissen zu verraten? Dürfen wir Ihre Ansicht dazu erfahren?»
Aber es war ihm nicht beschieden, Gregory Banks’ Ansichten über Chancen oder auch über sonst etwas zu erfahren. Es erwies sich als ganz und gar unmöglich, mit Gregory Banks überhaupt ins Gespräch zu kommen. Der junge Mann hatte etwas Ungreifbares. Ob auf eigenen Wunsch oder den seiner Frau hin schien er eine Abneigung gegen Tête-à-têtes und Gespräche im kleinen Kreis zu haben. Nein, zu einer Unterhaltung mit Gregory kam es nicht.
Poirot hatte mit Maude Abernethie gesprochen - ebenfalls über Farbe (beziehungsweise deren Geruch) und über den glücklichen Umstand, dass Timothy nach Enderby hatte kommen können, und wie liebenswürdig es von Helen gewesen war, die Einladung auch auf Miss Gilchrist zu erstrecken.
«Sie ist wirklich ungemein nützlich. Timothy braucht ja so oft ein kleines Häppchen zu essen, und man darf die Dienstboten anderer Leute nicht über Gebühr strapazieren, aber in dem kleinen Raum neben der Speisekammer steht ja der Gaskocher, so dass Miss Gilchrist Ovomaltine oder eine Brühe für ihn warm machen kann, ohne jemanden zu stören. Und dann holt sie immer so bereitwillig alles Mögliche, läuft dutzend Mal am Tag die Treppe hinauf und hinab. O ja, ich glaube, die Vorsehung hat es gefügt, dass sie die Nerven verloren hat und nicht allein in unserem Haus bleiben wollte, obwohl ich zugegebenermaßen anfangs ziemlich irritiert war.»
«Sie hat die Nerven verloren?» Poirot horchte interessiert auf.
Schweigend hörte er zu, während Maude ihm Miss Gilchrists plötzliche Ängstlichkeit schilderte.
«Sie hatte Angst, sagen Sie? Konnte aber nicht genau sagen, warum? Das ist interessant, sehr interessant.»
«Ich halte es für eine verzögerte Schockreaktion.»
«Möglich.»
«Im Krieg ist einmal gerade gut einen Kilometer von uns entfernt eine Bombe eingeschlagen, und ich weiß noch, wie Timothy .»
Poirot gestattete sich, in Gedanken von Timothy abzuschwei-fen.
«War an dem Tag etwas Besonderes vorgefallen?», erkundigte er sich.
«An welchem Tag?» Maude sah ihn verständnislos an.
«An dem Tag, an dem Miss Gilchrist die Nerven verlor.»
«Ach, das ... nein, ich glaube nicht. Offenbar hat sie diese Anfälle, seit sie aus Lytchett St. Mary weg ist, oder zumindest sagt sie das. Als sie noch da war, hat es ihr offenbar nichts ausgemacht.»
Und als Folge davon, dachte Poirot, hatte sie ein Stück vergifteten Hochzeitskuchen gegessen. Nicht verwunderlich, dass sie hinterher ängstlich wurde ... Und selbst, als sie aufs friedliche Land gezogen war, nach Stansfield Grange, war ihr die Angst erhalten geblieben. Mehr als erhalten geblieben - sie war noch gewachsen. Welchen Grund hatte das? Sich um einen mäkeligen Hypochonder wie Timothy zu kümmern war doch sicherlich so anstrengend, dass alle nervösen Ängste sich vor Gereiztheit in Luft auflösen müssten?
Aber irgendetwas dort im Haus hatte Miss Gilchrist Angst gemacht. Was war das gewesen? Kannte sie selbst den Grund?
Als Poirot sich vor dem Abendessen eine kleine Weile allein mit Miss Gilchrist in einem Raum befand, sprach er das Thema mit der Neugier des Ausländers freimütig an.
«Sie verstehen, für mich ist es unmöglich, in Anwesenheit der Familienangehörigen über den Mord zu sprechen. Aber ich bin neugierig. Wer wäre das nicht? Ein grausames Verbrechen - eine empfindsame Künstlerin wird in einem einsamen Cottage überfallen. Schrecklich für die Familie. Aber schrecklich, denke ich, auch für Sie. Da Mrs. Timothy Abernethie mir zu verstehen gegeben hat, dass Sie zu der Zeit da waren?»
«Das stimmt. Und wenn Sie mir verzeihen würden, Monsieur Pontarlier, ich möchte nicht darüber reden.»
«Das verstehe ich ... ja, das verstehe ich sehr gut.»
Nach diesen Worten machte er eine Pause und wartete. Wie er vermutet hatte, begann Miss Gilchrist sofort, sich über eben dieses Thema zu verbreiten.
Er erfuhr von ihr nichts, was er nicht schon kannte, aber er spielte seine Rolle, legte Mitgefühl an den Tag, murmelte verständnisvolle Worte und lauschte mit einem gebannten Interesse, das Labsal für Miss Gilchrists Seele war.
Erst, nachdem sie ihre eigenen Gefühle zu dem Thema ausführlich erläutert, die Meinung des Arztes wiedergegeben und die Freundlichkeit Mr. Entwhistles geschildert hatte, schnitt Poirot vorsichtig den nächsten Punkt an.
«Sie waren klug, denke ich, nicht allein dort im Cottage zu bleiben.»
«Ich hätte es nicht über mich bringen können, Monsieur Pon-tarlier. Ich hätte es einfach nicht gekonnt.»
«Nein. Wie ich gehört habe, hatten Sie sogar Angst davor, allein im Haus von Mr. Timothy Abernethie zu bleiben, als er und seine Frau hierher kommen wollten.»
Miss Gilchrist sah ihn schuldbewusst an. «Ich schäme mich sehr deswegen. Eigentlich war es sehr dumm von mir. Irgendwie hat mich Panik befallen - und ich weiß nicht, warum.»
«Aber natürlich wissen Sie, warum. Sie waren gerade von einem hinterhältigen Giftanschlag genesen ...»
An dieser Stelle seufzte Miss Gilchrist tief und sagte, das ginge über ihren Verstand hinaus. Aus welchem Grund sollte irgendjemand sie vergiften wollen?
«Aber das liegt auf der Hand, chère Madame. Weil dieser Verbrecher, dieser Mörder glaubte, Sie würden etwas wissen, das zu seiner Verhaftung durch die Polizei führen könnte.»
«Aber was sollte ich denn schon wissen? Ein schrecklicher Landstreicher oder ein Halbverrückter.»
«Wenn es ein Landstreicher war. Mir kommt das unwahrscheinlich vor .»
«Oh, bitte, Monsieur Pontarlier ...» Unversehens wurde Miss Gilchrist erregt. «Sagen Sie solche Dinge nicht. Ich möchte es nicht glauben müssen.»
«Was möchten Sie nicht glauben müssen?»
«Ich möchte nicht glauben müssen, dass es kein ... ich meine ... dass es ...»
Verwirrt brach sie ab.
«Und trotzdem glauben Sie es», warf Poirot verständnisvoll ein.
«Nein, das stimmt nicht! Das ist nicht wahr!»
«Ich glaube aber doch. Und das ist der Grund, warum Sie Angst haben ... Sie haben immer noch Angst, ist es nicht wahr?»
«O nein, nein, nicht, seitdem ich hier bin. Hier sind so viele Leute. Eine richtige Familienatmosphäre. O nein, hier ist alles ganz normal.»