«Mir kommt es vor ... verzeihen Sie meine Neugier, ich bin ein alter Mann, ein wenig gebrechlich, und verbringe einen Großteil meiner Zeit mit müßigen Überlegungen zu Dingen, die mein Interesse geweckt haben -, mir kommt es so vor, als müsste in Stansfield Grange etwas Bestimmtes vorgefallen sein, das Ihre Angst sozusagen aufflackern ließ. Die Ärzteschaft ist heute einer Meinung darüber, dass vieles in unserem Unterbewusstsein abläuft.»
«Ja, ja ... ich weiß, dass sie das behaupten.»
«Und ich glaube, Ihre unterbewussten Ängste wurden durch ein kleines Ereignis ausgelöst, etwas vielleicht völlig Unwesentliches, das aber - sagen wir, als Katalysator fungierte.»
An dieser Theorie schien Miss Gilchrist großen Gefallen zu finden.
«Da haben Sie sicher Recht», sagte sie.
«Und was, glauben Sie denn, war dieses - dieses kleine Ereignis?»
Miss Gilchrist überlegte eine Weile. «Wissen Sie, Monsieur Pontarlier», erklärte sie dann unvermittelt, «ich glaube, es war die Nonne.»
Bevor Poirot eine weitere Frage stellen konnte, betraten Susan und ihr Mann den Raum, gefolgt von Helen.
«Eine Nonne ...», dachte Poirot. «Wo habe ich in all den Gesprächen schon einmal von einer Nonne gehört?»
Er beschloss, im Verlauf des Abends das Gespräch auf Nonnen zu lenken.
NEUNZEHNTES KAPITEL
Die Familie verhielt sich sehr höflich gegenüber Monsieur Pontarlier, dem Vertreter der UNARCO. Es war sehr geschickt von ihm gewesen, lediglich die Initialen zu erwähnen. Alle hatten UNARCO als gegeben hingenommen - hatten sogar so getan, als wüssten sie über die Organisation genau Bescheid. Wie sehr es Menschen doch widerstrebte, ihre Unwissenheit einzugestehen! Nur Rosamund war verwundert gewesen. «Aber was ist das denn genau?», hatte sie gefragt. «Ich habe noch nie davon gehört.» Zum Glück war zu dem Zeitpunkt niemand anders im Raum gewesen. Poirot hatte die Organisation mit so gewichtigen Worten beschrieben, dass jeder außer Rosamund sich geschämt hatte zuzugeben, noch nie von dieser bekannten internationalen Institution gehört zu haben. Doch Rosamund hatte nur gesagt «Ach! Schon wieder Flüchtlinge. Ich bin diese ewigen Flüchtlinge leid!», und damit die Ansicht vieler wiedergegeben, die aber meist zu sehr auf Anstand hielten, um ihre Meinung ehrlich zu äußern.
Somit war Monsieur Pontarlier mittlerweile akzeptiert - ein Störenfried zwar, aber belanglos, sozusagen ein fremdländisches Dekorationsobjekt. Allgemein herrschte die Ansicht vor, Helen hatte vermeiden sollen, dass er ausgerechnet an diesem Wochenende nach Enderby kam, aber da er nun einmal hier war, musste man das Beste daraus machen. Zum Glück schien dieser merkwürdige kleine Ausländer kaum Englisch zu sprechen. Oft verstand er nicht, was man ihm sagte, und wenn alle durcheinander redeten, wirkte er völlig verloren. Offenbar galt sein Interesse ausschließlich Flüchtlingen und den Lebensumständen nach dem Krieg, und auf andere Themen erstreckte sich sein Wortschatz nicht. Gewöhnliche Unterhaltung schien ihn in Verwirrung zu stürzen. Mehr oder minder vergessen lehnte sich Hercule Poirot im Sessel zurück, trank von seinem Kaffee und beobachtete alles um sich herum, wie eine Katze das Zwitschern, Auffliegen und Schwirren eines Vogelschwarms verfolgt. Aber noch war die Katze nicht zum Sprung bereit. Nachdem Richard Abernethies Erben vierundzwanzig Stunden lang durchs Haus gestrichen waren und das Inventar begutachtet hatten, machten sie sich nun daran, ihre Wahl zu treffen und sie notfalls mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.
Als Erstes sprach man über ein Spode-Service, auf dem gerade der Nachtisch gereicht worden war.
«Ich habe nicht mehr lange zu leben», sagte Timothy mit leiser, melancholischer Stimme. «Und Maude und ich haben keine Kinder. Es lohnt sich kaum, uns noch mit unnützen Gegenständen zu belasten. Aber aus sentimentalen Gründen würde ich doch gerne das alte Nachtisch-Service haben. Ich kenne es noch aus der guten alten Zeit. Mittlerweile ist es natürlich sehr altmodisch, und mir ist klar, dass Nachtisch-Service heute praktisch wertlos sind - aber so ist es nun einmal. Ich auf jeden Fall bescheide mich damit - vielleicht noch die Boulle-Vitrine aus dem weißen Salon dazu.»
«Zu spät, Onkel.» George sprach mit unbekümmerter Lässigkeit. «Ich habe Helen heute Vormittag schon gebeten, das Spode-Service für mich zurückzulegen.»
Timothys Gesicht verfärbte sich purpurrot.
«Zurückzulegen? Was soll das heißen? Wir haben noch nichts entschieden. Und was willst du überhaupt mit einem Nachtisch-Service? Du bist nicht einmal verheiratet!»
«Um ehrlich zu sein, ich sammle Spode. Und dieses Service ist wirklich exquisit. Aber das mit der Boulle-Vitrine geht in Ordnung, Onkel. Die möchte ich nicht mal geschenkt.»
Timothy wischte die Frage der Boulle-Vitrine beiseite.
«Jetzt hör mir mal gut zu, du junger Spund. Du kannst dich hier nicht einfach so aufspielen. Ich bin älter als du - und ich bin Richards einziger noch lebender Bruder. Das Nachtisch-Service gehört mir.»
«Warum nimmst du denn nicht das Dresdner Porzellan, Onkel? Es ist sehr schön und hat bestimmt genauso viel Erinnerungswert. Das Spode gehört auf jeden Fall mir - wer zuerst kommt, mahlt zuerst!»
«Unsinn - nichts dergleichen!», ereiferte sich Timothy.
«Bitte reg deinen Onkel nicht so auf, George», fuhr Maude scharf dazwischen. «Das tut ihm gar nicht gut. Wenn er das Spode haben will, dann bekommt er es natürlich auch! Er hat die erste Wahl, ihr junges Volk kommt später dran. Wie er sagt, er war Richards Bruder und du warst nur sein Neffe.»
«Und ich sage dir eins, junger Mann.» Timothy platzte beinahe vor Zorn. «Wenn Richard ein richtiges Testament gemacht hätte, wäre es allein an mir gewesen, über den Inhalt dieses Hauses zu bestimmen. So hätte der Besitz auch vermacht werden müssen, und wenn dem nicht so war, kann ich das nur auf unzulässige Beeinflussung zurückführen - ja, ich wiederhole, auf unzulässige Beeinflussung!»
Timothy funkelte seinen Neffen an.
«Ein widersinniges Testament», sagte er. «Widersinnig!»
Er lehnte sich zurück, fasste sich ans Herz und keuchte. «Das ist alles so schlimm für mich. Ich brauche einen ... einen kleinen Brandy.»
Miss Gilchrist sprang auf, um das Gewünschte zu holen, und kehrte mit einem kleinen Glas voll Brandy zurück.
«Hier, Mr. Abernethie, nehmen Sie. Und bitte, bitte regen Sie sich nicht so auf. Sind Sie sicher, dass Sie nicht auf Ihr Zimmer gehen und sich hinlegen möchten?»
«Quatsch.» Timothy leerte das Glas mit einem Zug. «Mich hinlegen? Ich habe vor, meine Interessen zu verteidigen.»
«George, wirklich, du überraschst mich», warf Maude ein. «Dein Onkel hat vollkommen Recht. Seine Wünsche haben Vorrang. Wenn er das Spode-Service haben will, dann soll er es auch bekommen!»
«Es ist sowieso scheusslich», sagte Susan.
«Halt den Mund, Susan», fuhr Timothy auf.
Der magere junge Mann, der neben Susan saß, hob den Kopf. Seine Stimme klang plötzlich schrill.
«Passen Sie auf, wie Sie mit meiner Frau reden!», rief er und hob sich halb aus dem Sessel.
«Schon in Ordnung, Greg», beschwichtigte Susan rasch. «Es stört mich nicht.»
«Aber mich.»
Helen griff vermittelnd ein. «Ich fände es sehr nett von dir, wenn du deinem Onkel das Service überlassen würdest, George.»
Empört fuhr Timothy auf. «Von <überlassen> kann gar keine Rede sein!»
«Dein Wunsch ist mir Befehl, Tante Helen», sagte George mit einer leichten Verbeugung vor ihr. «Ich verzichte auf meinen Anspruch.»
«In Wirklichkeit wolltest du es gar nicht, oder?», sagte Helen.
George warf ihr einen prüfenden Blick zu und grinste dann.