Das enervierende Klingeln ging immer weiter. Seufzend schlüpfte Miss Entwhistle in ihren Morgenmantel und ging ins Wohnzimmer.
«Kensington 675498», sagte sie barsch, nachdem sie den Hörer abgehoben hatte.
«Mrs. Abernethie am Apparat, Mrs. Leo Abernethie. Kann ich bitte Mr. Entwhistle sprechen?»
«Oh, guten Morgen.» Das «guten Morgen» klang nicht eben freundlich. «Hier spricht Miss Entwhistle. Ich fürchte, mein Bruder schläft noch. Ich habe selbst noch geschlafen.»
«Es tut mir sehr Leid.» Helen sah sich genötigt, eine Entschuldigung abzugeben. «Aber es ist sehr wichtig. Ich muss sofort mit Ihrem Bruder reden.»
«Kann es nicht warten?»
«Leider nicht.»
«Nun gut.»
Miss Entwhistles Ton war unterkühlt.
Sie klopfte an die Schlafzimmertür ihres Bruders und trat ein.
«Das sind wieder diese Abernethies!», murrte sie.
«Was? Die Abernethies?»
«Mrs. Leo Abernethie. Vor sieben Uhr morgens ruft sie an! Also wirklich!»
«Mrs. Leo? Du meine Güte. Welche Überraschung. Wo ist mein Schlafrock? Ach, danke.»
Wenig später nahm er den Hörer in die Hand. «Entwhistle am Apparat. Helen, sind Sie das?», sagte er.
«Ja. Es tut mir sehr Leid, Sie aus dem Schlaf zu reißen. Aber Sie sagten, ich solle Sie sofort anrufen, wenn mir wieder einfiele, was mir damals am Tag der Beerdigung merkwürdig vorkam, als Cora uns alle mit ihrer Bemerkung schockierte.»
«Ah! Und es ist Ihnen wieder eingefallen?»
«Ja», sagte Helen. Ihre Stimme klang verwundert. «Aber es ist absurd.»
«Darüber zu befinden, müssen Sie schon mir überlassen. Ist es etwas, das Ihnen an einer bestimmten Person aufgefallen ist?»
«Ja.»
«Erzählen Sie.»
«Es ist wirklich absurd.» Helen klang, als wollte sie sich jeden Moment entschuldigen. «Aber ich bin mir absolut sicher. Es ist mir eingefallen, als ich mich gestern Abend im Spiegel anschaute. Oh ...»
Auf den leisen, erschreckten Aufschrei folgte ein Geräusch, das lange durch die Leitung hallte - ein dumpfer, schwerer Schlag, den Mr. Entwhistle überhaupt nicht deuten konnte.
«Hallo?» Seine Stimme war besorgt. «Hallo - sind Sie noch dran? Helen, sind Sie da? ... Helen ...»
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
I
Erst eine knappe Stunde später, nach zahlreichen Gesprächen mit der Störungsstelle, hatte Mr. Entwhistle schließlich Hercule Poirot am anderen Ende der Leitung.
«Gott sei Dank!», sagte Mr. Entwhistle mit verständlichem Ingrimm. «Das Fernamt hatte die größten Schwierigkeiten, eine Verbindung herzustellen.»
«Das ist nicht überraschend. Der Hörer war nicht aufgehängt.»
In Poirots Stimme schwang ein düsterer Unterton mit, der den Notar aufhorchen ließ.
«Ist etwas passiert?», fragte er erschrocken.
«Ja. Vor etwa zwanzig Minuten wurde Mrs. Leo Abernethie vom Hausmädchen hier beim Telefon im Herrenzimmer am Boden liegend gefunden. Sie war bewusstlos. Eine schwere Gehirnerschütterung.»
«Sie meinen, es war ein Schlag auf den Kopf?»
«Ich glaube schon. Es wäre vielleicht denkbar, dass sie stürzte und sich den Kopf am marmornen Türhemmer anstieß, aber ich, ich glaube das nicht, und der Arzt, der glaubt es auch nicht.»
«Sie hatte gerade mit mir telefoniert. Ich habe mich gewundert, warum das Gespräch so plötzlich abbrach.»
«Mit Ihnen hat sie also gesprochen? Und was hat sie gesagt?»
«Sie hat mir vor einiger Zeit erzählt, dass sie an dem Tag, als Cora Lansquenet sagte, ihr Bruder sei ermordet worden, das Gefühl gehabt hätte, dass etwas nicht ganz stimmte - dass etwas komisch war - sie wusste nicht genau, wie sie es ausdrük-ken sollte -, aber leider konnte sie sich nicht erinnern, warum sie das Gefühl gehabt hatte.»
«Und plötzlich ist es ihr eingefallen?»
«Ja.»
«Und sie hat Sie angerufen, um es Ihnen zu sagen?»
«Ja.»
«Eh bien.»
«Es gibt dazu kein eh bien», gab Mr. Entwhistle empört zurück. «Sie hat angefangen, es mir zu sagen, wurde aber unterbrochen.»
«Wie viel hatte sie gesagt?»
«Nichts Wichtiges.»
«Verzeihen Sie, mon ami, aber darüber habe ich zu befinden und nicht Sie. Was genau hat sie gesagt?»
«Sie hat mich daran erinnert, dass ich sie gebeten hatte, mich sofort wissen zu lassen, wenn ihr wieder einfiel, was ihr merkwürdig vorgekommen war. Sie sagte, es sei ihr wieder eingefallen - aber es sei absurd.
Ich fragte sie, ob es sich um eine der Personen handelte, die an dem Tag da waren, und sie sagte ja. Sie sagte, es sei ihr eingefallen, als sie sich im Spiegel anschaute ...»
«Ja?»
«Das war alles.»
«Sie hat nicht angedeutet - um welche der Personen es sich handelte?»
«Ich hätte es kaum unterlassen, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, wenn sie mir das berichtet hätte», erwiderte Mr. Entwhistle aufgebracht.
«Verzeihen Sie, mon ami. Natürlich hätten Sie es mir sofort gesagt.»
Mr. Entwhistle lenkte ein. «Wir werden einfach warten müssen, bis sie wieder bei Bewusstsein ist.»
«Das könnte lange dauern», sagte Poirot düster. «Vielleicht nie.»
«Ist es so schlimm?» Mr. Entwhistles Stimme zitterte ein wenig.
«Ja, es ist so schlimm.»
«Aber - das ist entsetzlich, Poirot.»
«Ja, es ist entsetzlich. Und deswegen dürfen wir nicht warten. Denn es beweist, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der entweder völlig ruchlos ist oder der sehr große Angst hat, und das läuft auf dasselbe hinaus.»
«Aber hören Sie mal, Poirot, was ist mit Helen? Ich mache mir Sorgen um sie. Sind Sie sicher, dass sie in Enderby gut aufgehoben ist?»
«Nein, sie wäre hier nicht gut aufgehoben. Sie ist nicht in Enderby. Der Sanitätswagen war schon hier und fährt sie in ein Genesungsheim, wo Schwestern sich um sie kümmern und wo niemand, weder Familie noch Bekannte, sie besuchen darf.»
Mr. Entwhistle seufzte.
«Da bin ich sehr erleichtert! Sie hätte in Gefahr sein können.»
«Sie wäre zweifellos in Gefahr gewesen.»
Mr. Entwhistle klang bewegt.
«Ich habe Helen Abernethie immer sehr geschätzt. Immer schon. Eine sehr ungewöhnliche Persönlichkeit. Möglicherweise gab es in ihrem Leben - wie soll ich mich ausdrücken - gewisse Geheimnisse.»
«Ah, es gab Geheimnisse?»
«Ich war immer der Meinung, dass es sie gab.»
«Das erklärt die Villa in Zypern. Ja, das erklärt vieles ...»
«Ich möchte nicht, dass Sie jetzt denken ...»
«Am Denken können Sie mich nicht hindern. Aber jetzt habe ich einen kleinen Auftrag für Sie. Einen Moment.»
Es entstand eine Pause, dann hörte Mr. Entwhistle wieder Poirots Stimme.
«Ich musste mich vergewissern, dass niemand mithört. Alles ist gut. Und nun, was ich von Ihnen möchte - Sie müssen eine kleine Reise unternehmen.»
«Eine Reise?» Mr. Entwhistle klang ein wenig bestürzt.
«Ach, ich verstehe - Sie möchten, dass ich nach Enderby komme?»
«Keinesfalls. Hier bin ich. Nein, eine so weite Reise brauchen Sie nicht zu machen. Ihre Reise führt Sie nur in die Umgebung von London. Sie reisen nach Bury St. Edmunds - ma foi!, diese Namen, die Ihre englischen Städte haben! - und dort mieten Sie sich einen Wagen und fahren nach Forsdyke House. Das ist eine Nervenklinik. Sie fragen nach einem Dr. Penrith und erkundigen sich nach den Details eines Patienten, der vor einigen Monaten entlassen wurde.»
«Welches Patienten? Bestimmt ...»