»Möglicherweise stellt es sie zufrieden, wenn wir eine gewisse Zeit bleiben und ein paar von ihnen ausbilden«, schlug Del vor. »Du weißt, daß es ein paar einfache Tricks ...«
»Nein«, sagte Skar hart. »Es würde sie nicht zufriedenstellen, und ich würde es nicht tun. Dieses Land ist fremd für uns, Del, fremder als irgendeines, das wir je gesehen haben. Wir haben weder die Möglichkeiten noch das Recht, uns in das Leben dieser Menschen zu mischen.«
Del wiegte den Kopf. »Du bist also entschlossen, allein nach Ipcearn zu gehen?« fragte er.
»Natürlich. Der Ritt wäre viel zu anstrengend für dich. Du mußt dich noch schonen. Je eher du gesundest, desto eher können wir aufbrechen.«
»Coar wird sehr enttäuscht sein, wenn wir gehen«, sagte Del lächelnd. »Und Larynn wohl auch. Aber du hast wohl recht. Ich habe vielleicht sechs Tage geschlafen, aber ich fühle mich, als hätte ich sechs Jahre im Sattel gesessen.«
»Außerdem ist mir wohler, wenn einer von uns hierbleibt«, sagte Skar.
»Warum?«
»Warum?« Skar sah auf. »Ich ... ich weiß es selbst nicht so genau, Del«, gestand er nach kurzem Zögern. »Es ist nur ein Gefühl.«
»Du glaubst, sie führen irgend etwas im Schilde?« fragte Del zweifelnd.
Skar schüttelte hastig den Kopf, nahm die Hände herunter und begann an seinem Schwertknauf zu spielen. »Bestimmt nicht«, versicherte er. »Ich bin nur gerne vorsichtig, das ist alles.« Er senkte den Blick, suchte einen Moment krampfhaft nach Worten und fuhr dann, sehr leise und in einem Tonfall, den Del selten bei ihm hörte, fort: »Ich weiß selbst nicht, was es ist, Del. Aber seit ich hier aufgewacht bin, habe ich ein übles Gefühl.«
»Angst?«
»Angst?« wiederholte Skar. »Mag sein, aber nicht so, wie du vielleicht glaubst. Nein, es ist ... ich habe das Gefühl, in etwas hineinzuschlittern, mit dem wir am Ende nicht mehr fertig werden.«
»Diese Menschen sehen mehr in uns, als wir sind«, bestätigte Del. »Ich habe keine drei Tage gebraucht, um das herauszufinden. Wenn du es zugelassen hättest, würden sie uns als Helden feiern.«
»Das ist es ja gerade«, nickte Skar betrübt. »Ich fürchte, sie tun es bereits, auch wenn ich mich dagegen wehre. Ich muß zu diesen Königen, je eher, desto besser.«
»Aber gib acht, was du sagst«, sagte Del warnend. »Du darfst sie nicht enttäuschen. Ich glaube, viele von ihnen setzen all ihre Hoffnung in uns.«
»Hat dir das Larynn gesagt?« fragte Skar.
Del schüttelte den Kopf und blinzelte zum hellen Rechteck des Fensters hinauf. »Nein. Nicht direkt jedenfalls. Aber das, was sie nicht gesagt hat, war beinahe interessanter. Sie scheinen auf eine Art Befreier zu warten.«
»Befreier? Wie meinst du das?«
Del zuckte die Achseln und ließ sich zurücksinken. »Ein Mythos«, antwortete er. »Irgend so eine Legende, was weiß ich. Jedes Volk in dieser Situation würde wohl auf einen Befreier warten.«
»Und du glaubst, sie glauben, wir ...?«
»Ich meine gar nichts«, sagte Del scharf. »Larynn und die anderen sind nicht so dumm, wirklich zu glauben, daß wir direkt vom Himmel gefallen sind, um ihr Volk aus der Knechtschaft zu führen. Ich habe eine ganz andere Befürchtung.« Er setzte sich wieder auf und beugte sich vor. »Hat dir Coar erzählt, daß längst nicht alle Cearner mit der Politik einverstanden sind, die in Ipcearn gemacht wird?« Skar starrte den jungen Satai verblüfft an. »Nein«, sagte er erstaunt. »Das ist das erste, was ich höre. Im Gegenteil - heute morgen hatte ich den Eindruck, daß diese Menschen einen Heidenrespekt vor Mergell und seinen Leuten haben.«
»Das haben sie auch«, bestätigte Del. »Doch das eine schließt das andere nicht aus, oder? Dieses Volk wartet seit Jahrhunderten darauf, in seine Heimat zurückkehren zu können. Viele von ihnen haben die Hoffnung insgeheim längst aufgegeben, aber es gibt auch Stimmen, die nicht länger warten wollen. Ginge es nach Bernec und seinen Freunden ...«
»Bernec!« unterbach ihn Skar verblüfft.
»Du hast ihn kennengelernt?«
»Und ob«, nickte Skar. »Was ist mit ihm?«
Del wiegte den Schädel. »Er gehört zu einer Gruppe junger Krieger, die lieber heute als morgen ein Heer zusammenstellen und durch die Nonakesh ziehen würden, um Urcöun zurückzuerobern. Sie wollen nicht länger warten. Einzig der Respekt vor Ipcearn hält sie noch von einer offenen Revolte zurück.«
»Und was haben wir damit zu schaffen?«
»Nichts«, sagte Del. »Jedenfalls nichts, was uns angeht. Aber es wäre nicht das erste Mal, daß ein völlig unbeteiligter Fremder zum auslösenden Moment wird. Ein unbedachtes Wort kann genügen. Went mag friedlich erscheinen, aber es ist ein Pulverfaß.«
»Ein Grund mehr, so rasch wie möglich von hier zu verschwinden«, sagte Skar halbherzig. Dels Worte hatten seine Verwirrung noch mehr gesteigert.
»Wenn sie uns weglassen«, sagte Del. Er schwieg einen Moment und seufzte. »Aber ich will nicht unken, Skar. Ich werde hierbleiben und auf dich warten, während du in lpcearn bist. Aber ich bitte dich, vorsichtig zu sein. Nach allem, was ich über Ipcearn gehört habe, sind die Könige nicht so harmlos, wie es scheint. Wir -« Er brach mitten im Satz ab und wandte den Kopf. Der Vorhang wurde raschelnd beiseitegeschoben, und Thoranda erschien unter der Tür. Sie trat einen Schritt in den Raum hinein, blieb stehen und sah Del mit offenkundiger Mißbilligung an.
»Genug geredet, ihr beiden«, sagte sie streng. »Ihr habt später noch Zeit genug, euch zu unterhalten.«
Del wollte protestieren, aber Thoranda ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Nichts da«, sagte sie entschieden. »Wenn du wieder vollends genesen bist, kannst du den starken Mann spielen, solange es dir beliebt, aber jetzt wirst du tun, was ich dir sage, und dich ausruhen. Du brauchst Schlaf und kräftige Nahrung. Und vor allem Ruhe.«
Skar grinste schadenfroh, als er den hilflosen Ausdruck auf Dels Gesicht sah. »Tu lieber, was sie sagt«, riet er. »Du kommst sowieso nicht gegen sie an. Ich habe es auch versucht.« Er stand auf und ging mit ein paar raschen Schritten zur Tür. »Ich komme später noch einmal wieder.«
»Später«, sagte Thoranda betont, »wird dein Freund schlafen, Skar. Du kannst ihn morgen besuchen, bevor du nach Ipcearn aufbrichst. Ich habe ihn nicht mühsam gesundgepflegt, damit er sich jetzt wieder überanstrengt.«
Skar seufzte. »Gut, wenn du es meinst. Dann auf morgen.« Er nickte Del zum Abschied zu, dreht sich um und verließ mit eiligen Schritten den Raum. Dels Worte hatten ihn mehr aufgewühlt, als er zugeben wollte. In seinem Inneren kochte ein wahrer Vulkan einander widersprechender Gefühle und Empfindungen. Er wußte nicht, ob er nun wütend oder erleichtert sein sollte, das Geheimnis endlich gelöst zu haben, oder ob er es überhaupt gelöst hatte. Er hatte von Anfang an gespürt, daß die Cearner mehr in ihm sahen als einen einfachen Satai, und doch hatten ihn Dels Worte maßlos überrascht. Überrascht und enttäuscht. Denn wenn Del die Wahrheit gesprochen hatte, dann war das Verhalten der Cearner Berechnung, wenn auch sicherlich nicht bewußt. Aber der Gedanke, benutzt zu werden, letztlich nicht mehr als ein Werkzeug zu sein, brachte ihn in Wut. Er würde zu Coar gehen und die Frage klären, ein für allemal. Sicher hatte Del recht - dieses Volk hatte mehr, viel mehr für sie getan, als sie erwarten durften, und vielleicht hatte er kein Recht, ihre Träume und Hoffnungen zu zerstören, aber wenn er schwieg, konnten die Folgen schlimmer sein.