»Flieh«, keuchte Bernec noch einmal. »Ihr habt eine Chance. Aber ihr müßt euch beeilen. Verbergt euch irgendwo in den Dünen. In der Dunkelheit werden sie eure Spuren nicht finden. Verschwinde endlich!«
Skar schüttelte entschieden den Kopf. »Den Teufel werde ich tun«, sagte er grimmig. »Del! Nach links hinüber! Hinter die Düne. Wir greifen an, wenn sie zwischen uns und Bernecs Leuten sind!« Del nickte knapp, löste den Bogen von seiner Schulter und verschwand mit federnden Schritten in der Nacht.
»Das ist Wahnsinn«, keuchte Bernec. »Ihr könnt sie nicht besiegen. Es sind zu viele, und wir haben keine Kraft mehr zum Kämpfen.«
»O doch«, sagte Skar entschlossen. »Die habt ihr.« Er warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück. Das dumpfe Trommeln der Pferdehufe war lauter geworden, aber noch war von den Reitern selbst nichts zu sehen. Die eisige, trockene Nachtluft mußte den Schall sehr weit tragen. »Hör zu«, sagte er hastig. »Und die anderen auch. Ich werde jetzt auf den Kamm dieser Düne steigen und mich dort verbergen, bis sie genau zwischen uns sind. Und wenn ich das Zeichen dazu gebe, dann werdet ihr eure Bögen nehmen und so viele von ihnen aus den Sätteln schießen, wie ihr könnt. Ich verlange nicht, daß ihr trefft. Alles, was ich und Del brauchen, sind ein paar Sekunden Zeit. Beschäftigt sie einen Moment, das ist alles, was ich verlange. Und paßt auf, daß ihr die Pferde nicht trefft. Wir brauchen sie!« Er riß Bernec am Arm in die Höhe, zerrte den Bogen von seinem Rücken herunter und zwang ihn, danach zu greifen. »Nimm!« befahl er. »Und wehr dich. Denk an deinen Sohn, Bernec. Du hast nicht das Recht, dein Leben wegzuwerfen! In Cearn wartet noch Arbeit auf dich!«
Sein barscher Tonfall schien Erfolg zu haben. Bernec stöhnte, betrachtete den Bogen in seiner Hand eine Sekunde lang verwundert, als wüßte er nicht, was er damit anfangen sollte, und nickte dann mühsam. »Gut«, murmelte er. »Wir ... versuchen es.«
»Ihr werdet es nicht versuchen«, schnappte Skar, »sondern tun!«
Bernec griff mit steifen Fingern nach dem Köcher an seiner Seite und legte einen Pfeil auf die Sehne. Seine Hände zitterten. Skar warf ihm einen letzten, warnenden Blick zu, fuhr herum und lief rasch nach rechts davon. Er wußte, daß weder Bernec noch einer der anderen wirklich noch in der Lage waren, den Angreifern ernstzunehmenden Widerstand entgegenzusetzen. Aber das war auch nicht nötig. Del und er brauchten ein paar Sekunden, mehr nicht. Dem Geräusch nach zu schließen, mußte der Trupp, der da durch die Wüste auf sie zusprengte, aus fast zwanzig Berittenen bestehen. Und trotzdem hatten sie eine Chance. Wenn es Bernec und seinen Männern gelang, die Angreifer auch nur für einen kurzen Moment abzulenken, konnten sie die Hälfte von ihnen aus den Sätteln schießen, bevor sie überhaupt gemerkt hatten, daß sie in eine Falle geraten waren. Mit etwas Glück würden die anderen fliehen. Wenn nicht, mußten sie es auf ein Handgemenge ankommen lassen. Die Cearner mochten im Wald gefährliche Gegner sein, aber dies hier war freies, deckungsloses Gelände, und im offenen Kampf Mann gegen Mann konnte ein Satai auch mit einer fünffachen Überlegenheit fertig werden. Aber es mußte schnell gehen, sehr schnell. Die Kraft, die ihn durchströmte, war nicht mehr als ein letztes Aufbäumen, mit dem sein Körper auf jahrzehntelang antrainierte Kampfreflexe reagierte. Sie würden entweder sofort siegen oder gar nicht.
Er erreichte den Hügelkamm, warf sich der Länge nach in den Sand und riß Köcher und Bogen vom Rücken. Die Luft über der Wüste schien vom Dröhnen der Hufe zu vibrieren. Ein heller, anfeuernder Ruf drang an sein Ohr, gefolgt von einem schmerzhaften Wiehern, als der unsichtbare Reiter seinem Tier gnadenlos die Sporen in die Seite rammte. Skar legte einen Pfeil auf die Sehne, richtete sich in eine halb sitzende, halb hockende Stellung auf und zielte in die Dunkelheit jenseits der nächsten Hügelkette hinaus. Langsam begann er eine Anzahl flacher, geduckter Schatten gegen den samtblauen Hintergrund des Nachthimmels auszumachen. Reiter - zuerst einen, dann zwei, drei, vier ... und Pferde. Eine große Anzahl reiterloser Pferde ...
Skar zog verwundert die Brauen zusammen. Er hatte mit seiner Schätzung ziemlich dicht an der Wirklichkeit gelegen - es mußten ungefähr zwanzig Pferde sein. Aber nur auf fünfen davon saßen Reiter ...
Die Bogensehne in seiner Hand entspannte sich. Er richtete sich für einen Moment auf, hob den Arm und winkte; das Zeichen für Del, noch mit dem Angriff zu warten. Etwas war dort unten nicht in Ordnung.
Der Reitertrupp sprengte heran, umging in weitem Bogen die letzte Düne und galoppierte mit unvermindertem Tempo auf Bernecs Gruppe zu. Skar konnte erkennen, wie die Männer dort unter ihnen plötzlich wild durcheinanderliefen. »Satai!« drang Bernecs Stimme zu ihm herauf. »Skar! Del! Nicht schießen! Es sind unsere Leute! Nicht schießen!«
Skar ließ den Bogen endgültig sinken und stand auf. Unter den Reitern entstand für einen kurzen Moment Unruhe, als sie die beiden Gestalten der Satai auf den Hügeln über sich gewahrten. Eines der reiterlosen Pferde kreischte erschrocken auf und ging durch.
»Es sind Freunde!« rief Bernec noch einmal. Er hob die Arme und fuchtelte wild mit den Händen in der Luft, als hätte er Angst, daß Skar und Del ihn nicht verstehen und trotzdem angreifen würden.
Skar winkte zurück und begann mit raschen Schritten die Düne hinunterzulaufen. Auf der anderen Seite des Hügeltales machte sich Del auf den Rückweg. Skar fühlte eine tiefe Erleichterung, daß es nicht zum Kampf gekommen war. Er hatte keine Angst davor gehabt, aber es war das erste Mal, daß er vor einem Kampf etwas anderes als Ruhe und angespannte Konzentration verspürt hatte. Er wollte nicht mehr töten. Diese Männer und Frauen - auch die Bewohner Ipcearns - waren nicht ihre Feinde.
Er und Del langten nahezu gleichzeitig bei der Gruppe an. Das Hügeltal war erfüllt vom aufgeregten Stampfen der Pferde, von Stimmengewirr und Lachen. Die Reiter stammten aus Went. Zwei von ihnen erkannte er wieder. Jemand drückte ihm einen prallen Wasserbeutel in die Hand, ein anderer reichte ihm Brot und Fleisch, kaum daß er ein paar Schlucke getrunken und seinen schlimmsten Durst gelöscht hatte. Er nahm beides an, trank und aß mit schnellen, gierigen Bewegungen und ließ sich zitternd gegen die Flanke eines Pferdes sinken. Das Tier zitterte vor Anstrengung. Es keuchte und verströmte einen durchdringenden, scharfen Schweißgeruch. Die Männer mußten ihre Pferde gnadenlos durch die Wüste gehetzt haben.
»Ich ... ich bin froh, daß ihr mich verstanden habt«, keuchte Bernec, als Skar nach einem kurzen Moment der Ruhe zu ihm hinüberging. »Für einen Moment hatte ich Angst, ihr könntet mich nicht verstehen.«
»Was ist geschehen?« fragte Skar, ohne auf Bernecs Worte einzugehen.
Bernecs Gesicht verdüsterte sich. »Went ist besetzt«, sagte er dumpf. »Aber du fragst Nopath am besten selbst.« Er deutete auf einen blonden, breitschultrigen Jüngling in der grünen Kleidung der Waldläufer, der neben einem gestürzten Krieger niedergekniet war und ihm mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen Wasser einflößte.
Skar ging zu ihm hinüber und wartete geduldig, bis er den Mann versorgt hatte. »Du bist Nopath?« fragte er.
Der Cearner sah auf. Skar erschrak beinahe, als er in sein Gesicht sah. Der Mann sah nur wenig frischer aus als sie selbst - der Wahnsinnsritt durch den Wald und die Wüste mußte seine Kräfte bis zum Äußersten strapaziert haben.
»Was ist passiert?«
Nopath zögerte sichtlich. »Ihr ... seid verraten worden«, sagte er nach einer Weile. »Kurz nach eurem Aufbruch kamen Truppen aus Ipcearn. Sie haben Went besetzt. Die Garde wurde entwaffnet, und Mergell herrscht jetzt über die Stadt, wenigstens so lange, bis ein neuer Kommandant ernannt wird.«
Skar war nicht sonderlich überrascht. Er hatte nur nicht damit gerechnet, daß Seshar so schnell reagieren würde. »Und?«