Выбрать главу

Dann passierte etwas Schreckliches. Kurt blieb nach einer Rückwärtssalti-Dreierkombination im Park liegen und rührte sich nicht mehr. Max dachte zunächst an ein neues Kunststück. Doch nach einer Stunde war klar, dass mit dem Hund etwas nicht stimmte. - Nichts stimmte mehr. Er war tot. Es hatte ihm beim Salto den Magen umgedreht. »Er hat nicht gelitten«, schwor der Tierarzt. Max weinte dennoch. Kurt hatte immerhin sein Leben auf den Kopf gestellt.

»Kurt ist tot«, gestand Max tags darauf seinem Chefredakteur. »Nein«, erwiderte der Chef. »Doch«, wusste Max, »es hat ihm den Magen umgedreht, die Kolumne ist gestorben.«

»Nein«, erwiderte der Chef. »Es mag ihm den Magen umgedreht haben, aber die Kolumne geht weiter. Die Leser wollen sie. Besorgen Sie sich einen neuen Hund, genau den Gleichen, wir zahlen das.« - »Kurt gab es nur einmal, er ist unersetzlich«, widersprach Max kleinlaut und ärgerte sich, gerührt zu sein und gegen Tränen ankämpfen zu müssen. »Hören Sie zu, junger Mann«, sagte der Chef sehr ruhig und legte Max seine Hand auf die Schulter. »Niemand ist unersetzlich, kein Hund und auch kein Kolumnist. Also besorgen Sie sich bitte einen neuen Kurt.« Er hob die Hand von Max' Schulter, um das Gespräch für beendet zu erklären. »Auch ich bin übrigens einer der zahlreichen Liebhaber Ihrer Kolumne«, rief er ihm noch nach.

Drei Tage lang wollte Max kündigen. Am vierten wusste er, dass er auf täglich zehn Briefe, zwanzig Anrufe und dreißig E-Mails Fanpost nicht mehr verzichten wollte. Außerdem war sein Bett zu leer, um nicht schlafen zu können, wie er es bereits gewohnt war; so schlief er schlecht und träumte depressiv. Am fünften Tag suchte er Kurt II. Am sechsten Tag fand er ihn. (Am Abend des sechsten Tages schrieb er für »Horizonte« zum vierten Mal »In den Wind gesabbert«.)

Der Kynologenverband hatte ihm Zugang zum »Verein der Freunde des Deutsch-Drahthaar« verschafft. Schon die Menschen dort ähnelten Kurt I optisch sehr. Bei den Hunden war die Übereinstimmung noch größer: Jeder von ihnen konnte Kurt sein. Fünf Exemplare waren gerade auf »Herrl- Suche«. Zwei schliefen fest, einer döste, einer gähnte. Und einer - auch er schien zunächst zu schlafen und Max glaubte bereits, den »Verein der Freunde des Deutsch-Drahthaar« als Valium-Sekte entlarvt zu haben -, dieser fünfte startete aus flacher Bodenlage senkrecht in die Höhe, biss sich im Flug in den Schwanz und landete offenbar zu seiner eigenen größten Überraschung hellwach auf vier Pfoten, ein Phänomen, von dem er sich minutenlang nicht erholte. »Das ist Mythos, er kommt aus Kreta«, meinte der Züchter. »Nein, das ist Kurt und er kommt zu mir«, entgegnete Max triumphierend.

Die Geschichte nähert sich ihrer zweiten Tragödie. Kurt II alias Mythos und von nun an für immer Kurt war am Tag des Erwerbs von einer Biene gestochen worden. Der steile Sprung war sein erster und letzter, ein einmaliges Kunststück, sein einziges kräftiges Lebenszeichen. Ab diesem Zeitpunkt bewegte er sich wie Kretas Ureinwohner um zwei Uhr mittags im Juli: nicht.

Die vierte Kolumne »In den Wind gesabbert« schien noch einmal den alten Kurt wachzurufen: »Wie Kurt zum Himmel steigt und wie ein Komet zur Erde zurückkehrt.« Für Max war das ein wehmütiger Nachruf, für die Leser der vierte Teil einer glanzvollen hundeathletisch-humoristischen Serie. Den fünften Teil - »Wie selbst Kurt einmal zur Ruhe kommt« - verzieh man ihm gerade noch; jeder Kolumnist hat einmal einen Hänger. Nach dem sechsten Teil - »Wie Kurt mit geschlossenen Augen von Bungeejumping träumt« - rief ihn der Chef zum ersten Mal zu sich. Nach dem siebenten Teil - »Und Kurt bewegt sich doch« - rief ihn der Chef zum letzten Mal zu sich. Er erklärte ihm, dass Journalismus etwas mit Leben zu tun habe und dass »In den Wind gesabbert, Teil sieben« der letzte in »Horizonte« erschienene Teil gewesen sei. Im selben Atemzug lobte er Max als tüchtigen Polizeireporter.

Max kündigte am gleichen Tag und blieb die nächste Zeit zu Hause. Dort hatte Kurt bereits kampflos den Platz unter seinem Sessel erobert. Sie sprachen nicht viel miteinander. Wenn Max unbedingt Gassi gehen wollte, trottete Kurt eben mit.

Täglich langten drei Fan-E-Mails weniger ein. Nach zwei Wochen schrieb keiner mehr. Nach drei Wochen erhielt Max ein zu diesem Zeitpunkt bereits überraschendes Angebot von »Leben auf vier Pfoten«, dem vermutlich unbekanntesten Tiermagazin der Welt. Dort suchten sie einen Kolumnisten für »Treue Augenblicke«. Sie hatten an Max und Kurt gedacht. Das Herrl sollte wieder seinen lustigen Hund beschreiben. Dafür gebe es auch ein kleines Honorar. Max war gerührt und willigte sofort ein.

Das war vor eineinhalb Jahren. Von diesem Zeitpunkt an beschrieb er jede Woche die Bewegungsabläufe eines regungslosen Deutsch-Drahthaar. Er hatte sich sicherheitshalber noch nie gefragt, warum und für wen er das eigentlich tat. Vermutlich für Franz von Assisi.

Bis Montag Nachmittag hatte sich der Nebel nicht aufgelöst. Max war mit »Treue Augenblicke« fertig. Die Folge beschrieb einen Spaziergang mit Kurt im Nieselregen, die mit Abstand größte Aufregung der vergangenen Woche, denn Kurt war einer Pfütze ausgewichen.

Vor dem Verlassen des Büros überflog Max die eingelangten Mitteilungen in seiner Mailbox. Fünf Leser hatten auf sein Weihnachtsangebot, Kurt zu nehmen, reagiert. Vier fragten an, warum Kurt Kurt hieß, ob er den Namen der Hundekolumne »In den Wind gesabbert« verdanke und ob Kurt denn ähnlich ausgeflippt unterwegs sei wie der legendäre Kurt aus »Horizonte«. Die fünfte Meldung lautete: »Ich mag keine Hunde, aber ich glaube, ich würde ihn nehmen. Er muss mich nur halbwegs in Ruhe lassen. Und ich will ihn vorher sehen. Gruß. Katrin.« Diese E-Mail beantwortete Max sofort, denn er hatte das Gefühl, die beiden würden gut miteinander harmonieren. Er schrieb: »Sie können den Hund jederzeit sehen. Sagen Sie mir wann und wo. Wir kommen überall hin. Kurt freut sich schon. Gruß. Max.« Das mit »Kurt freut sich schon« war eine Notlüge.

4. Dezember

In der Nacht hatte es geregnet und der Wind drückte stark gegen das Fensterglas, welches knirschende Geräusche machte, als stünde es knapp davor, in die Brüche zu gehen. Katrin wurde von einem elefantengroßen Hund mit Haifischzähnen gebissen, wachte auf und konnte, obwohl die Schmerzen natürlich gleich weg waren, die restlichen drei Stunden nicht mehr einschlafen. Den Typen mit dem Hund würde sie zu Mittag im Cafe Melange treffen. Sie hoffte, dass er ihr nichts tun würde - der Hund. Vor Männern fürchtete sie sich weniger.

Ordination war dienstags von 8 bis 12 und von 15 bis 18 Uhr. Katrin kam immer schon ein bisschen früher. Sie ertrug es nicht, wenn Doktor Harrlich vor ihr in der Praxis war. Da empfing er sie stereotyp im bemüht französischen Akzent mit »Guten Morgen, mein schönes Fräulein, haben Sie gut geschlafen?« und schlich mit seinen schlaffen Händen von hinten an ihren Körper heran, um ihr aus dem Mantel zu helfen, als wollte er Marlon- Brando-mäßig zum »Letzten Tango« antreten. Es wäre übrigens garantiert sein letzter Tango gewesen. Augenarzt Doktor Harrlich war 76 und ordinierte nur noch aus Gewohnheit und Betriebsblindheit. Er sah bereits so schlecht, dass er seine Patienten nicht mehr unterscheiden konnte.

Doktor Harrlich unterschrieb aber immerhin die Krankenscheine. (Den richtigen Platz fand er blind.) Die restliche Arbeit erledigte Katrin - und umgekehrt. Sie war theoretisch medizinisch-technische Assistentin der Augenheilkunde, jedoch praktisch Augenärztin ohne Doktortitel. Ihretwegen kamen die Kunden, ihretwegen musste der Wartesaal vergrößert werden. Achtzig Prozent der Patienten waren Männer. Alle wollten von ihr behandelt werden. Alle wollten, dass sie ihnen in die Augen schaute.

Der Vormittag verging schnell. - Ein Leberleiden, ein beginnender grüner Star, altersbedingte Kurzsichtigkeit, jugendliche Weitsichtigkeit: gleich zwei Dioptrien mehr - armer Bub, war erst fünfzehn Jahre alt und hatte schon Aschenbecher vor den Augen. Sieben weitere Patienten waren gesund und brauchten keine Brillen. Wahrscheinlich hatten sie es vorher ohnehin schon gewusst.