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Zehn vor eins wartete Katrin im Cafe Melange auf den Weihnachtshund, der ja hoffentlich an einer Leine hängen und mit einem ausbruchsicheren Beißkorb ausgestattet sein würde. Die zehn Minuten bis zum vereinbarten Treffzeitpunkt brauchte sie, um Fluchtwege auszukundschaften, für den Fall, dass der Hund an keiner Leine hing und mit keinem ausbruchsicheren Beißkorb ausgestattet war.

Katrin hasste es, allein in einem Kaffeehaus zu sitzen und so zu tun, als würde sie in dem Magazin, mit dem sie ihr Gesichtsfeld abschirmte, auch tatsächlich lesen. Sie hasste es, von Männern angesprochen zu werden, von denen sie nicht angesprochen werden wollte, und nur solche sprachen sie an. Noch mehr hasste sie deren ängstlich-sündige BlickKombinationen (Augen-Busen-Beine-Augen-BusenBusen), die nach ihr verrenkten Hälse, das notgeile Gezwinkere, die lustvoll gehobenen Augenbrauen, die von der Wunschvorstellung geöffneten Münder mit den vorblinzelnden Zungen. Am meisten hasste sie die Vorstellung, dass sich manche der Männer vielleicht sogar einbildeten, sie würde deshalb allein im Kaffeehaus sitzen, um dies erleben zu dürfen.

Als sie 26 war und den Vollzug ihrer vierten gescheiterten Beziehung, jene mit Herwig, hinter sich gebracht hatte, saß sie alleine in einem Kaffeehaus und ließ sich widerstandslos ansprechen. Ihr fehlten die natürlichen Abwehrkräfte. Außerdem wollte sie Herwig dafür bestrafen, dass er so war, wie er war. Außerdem hatte sie schon sechs Monate mit keinem Mann mehr geschlafen. Außerdem hatte sie Lust - zwar nicht unbedingt danach, mit einem Mann zu schlafen, aber nach ganz normalem Sex.

Der Typ hinter den Sonnenbrillen, Georg sollte er heißen (eines der wenigen Worte, die er fehlerfrei und ohne geistigen Kraftaufwand reproduzieren konnte), war einer, den Frauen einen »Adonis« nannten, ein ewiger Tarzan-Statist, potent bis in die Zehenspitzen. Ein Typ, den es eigentlich nur auf Fototapeten geben dürfte. Wegen solcher Männer flogen Garnisonen frustrierter Ehefrauen und Mütter nicht mehr allzu kleiner Kinder jährlich nach Tunesien und ritten auf Kamelen. Manche kamen nie wieder zurück.

Damals war Katrin alles egal. Deshalb beantwortete sie selbst Fragen wie: »Warum bist du allein?«, »Wie lang brauchst du zum Fönen deiner Haare?« oder: »Was machst du sonst noch?« mit wenigen Worten, aber großer Geduld. Schließlich fragte Georg: »Was ist dein Lieblingssport?« - »Bumsen«, erwiderte Katrin (war aber nicht sicher, ob sie das Wort richtig ausgesprochen hatte, ob es nicht »Pumsen«, »Bumbsen« oder noch härter »Pumpsen« hätte heißen müssen). Jedenfalls dachte sie dabei ganz fest und genüsslich an Herwig und hätte viel dafür gegeben, wenn er in dieser Situation hätte dabei sein können. Georg schien mit dieser Antwort zwar nicht gerechnet zu haben, aber sie gefiel ihm offensichtlich. Denn er sagte verschwörerisch grinsend: »Mein Lieblingssport eigentlich auch!« und verlangte die Rechnung.

Katrin bereute es nicht. Immerhin wusste sie bald wieder, wie das am Anfang mit Herwig gewesen war und warum sie es hatte einschlafen lassen. Im Stundenhotel gab es Sekt, Erdnüsse und für jede Stellung eine Couch. Georgs Erregtheit schmeichelte ihr. Und es machte ihr Spaß, einen Mann mit exakt jener Sache glücklich zu machen, die für ihn das größte Glück bedeutete. Sie freute sich mit ihm, dass er bald kam. Sie freute sich für sich, dass er bald ging. Er schaute auf die Uhr und dürfte ebenfalls zufrieden gewesen sein. »Morgen um die gleiche Zeit?«, fragte er beim abschließenden Händeschüt- teln. »Vielleicht eine Viertelstunde später«, erwiderte Katrin. Sie fand den Gag extrem gut, beherrschte sich aber und unterdrückte ein herausplatzendes Lachen. Das Kaffeehaus war für sie jedenfalls gestorben. Georg sowieso.

Und die Sache mit dem Weihnachtshund wohl ebenfalls. Der Typ hatte bereits zwanzig Minuten Überzeit, das sollte genügen. Katrin hatte den Termin somit zwar erfolglos, aber heil überstanden. Draußen regnete es gefrierend. In der Ordination blühten ihr an diesem Tag noch sieben Patienten. Am Abend konnte sie eventuell mit Freunden ins Kino gehen.

In der verbleibenden Mittagszeit verspürte sie den dringenden Wunsch sich zu belohnen. Zum Glück war es nicht weit zum nächsten italienischen Schuhgeschäft. Die Menschen auf der Straße bildeten gefrierende Regensäulen. Vor der überdachten Punschhütte wand ein Weihnachtsmann seine nasse Mütze aus. Daneben lag ein eingerollter großer Hund an einer Leine. Die Leine war gespannt. Am anderen Ende stemmte sich jemand wie ein Surfer im Tornado dagegen. Es gibt schon verrückte Bilder, dachte Katrin.

5. Dezember

Am Krampusvormittag ging der morgendliche gefrierende Regen in Schneeregen, dieser in Regenschnee und Letztgenannter in Schneeschauer über. Zu Mittag ging der Schneeschauer in Schauer über, der Schauer wenig später in Regenschauer, der Regenschauer in gefrierenden Schneeschauer, dieser in Graupel, der Graupel in Nieselgraupel, welcher via Graupel zu Schneeschauer zurückkehrte. Am späten Nachmittag hörte der Niederschlag auf und es bildete sich bei um den Gefrierpunkt schwirrenden Temperaturen beständiger Nebel mit einer Obergrenze von ungefähr 11.500 Metern. Darüber schien angeblich die Sonne.

Immerhin erhielt Max eine zweite Chance, die Frau zu treffen, die Anstalten machte, Kurt über Weihnachten zu übernehmen. Auch wenn wenig Hoffnung bestand, dass daraus tatsächlich etwas werden könnte, durfte Max die Chance nicht auslassen. Denn er hatte zwar genügend Freunde zum »täglich Pferdestehlen«, aber keine zum Kurt- zweimal-täglich-ins-Freie-Schleifen. Seine Eltern flogen, wie jedes Jahr, über die Feiertage zu den Großeltern nach Helsinki. Die lebten dort, weil es vom Wetter her auch schon egal war. Sie hätten Helsinki jedenfalls nie verlassen, um Weihnachten in Wien zu feiern, nicht wegen der Eltern, nicht wegen Max und schon gar nicht wegen Kurt, den sie nur aus Erzählungen kannten. (Eigentlich nur aus einer Erzählung: Er bewegte sich nicht.)

Max hatte keine Geschwister. Max hatte niemanden, der ihm einen Gefallen schuldig gewesen wäre (außer Kurt). Tierheime schieden aus, dort würde Kurt einschlafen und nicht mehr aufwachen. (Warum schieden Tierheime eigentlich aus?) Und per Internet hatte sich ebenfalls keine weitere Möglichkeit auf getan, den Hund anzubringen. Die Leute wollten einzig wissen, warum Kurt Kurt hieß und ob das etwas mit Kurt aus dem legendären »In den Wind gesabbert« in »Horizonte« zu tun hatte.

Noch am Vorabend hatte sich Max mit einer romanverdächtig ausführlichen E-Mail für den geplatzten Termin entschuldigt. »Sie müssen wissen«, hat er der Interessentin geschrieben, »Kurt ist ein eher bequemer Hund. Es gibt Stunden, da geht er nicht gern ins Freie. Gestern Mittag war eine dieser Stunden. Und wenn er nicht gern ins Freie geht, dann geht er nicht ins Freie. Da ist er in sich konsequent. Kurt ist außerdem ein bisschen wasserscheu und gestern hat es geregnet. Deshalb sind wir nicht gekommen. Wir sind zwar von zu Hause weggegangen, aber wir sind nicht angekommen. Das tut uns leid. Das heißt: Mir tut es leid. Aber Kurt ist wirklich ein guter Hund. Und vielleicht wollen Sie sich ihn doch einmal ansehen. Vielleicht morgen. Morgen wird es bestimmt nicht regnen. Morgen geht Kurt sicher gern außer Haus, das heißt: Morgen geht er sicher außer Haus. Wir kommen auch gerne zu Ihnen, wenn Ihnen das lieber ist. Sie müssen uns nur sagen, wann wir wohin kommen sollen. Wir können uns das einteilen. Herzliche Adventgrüße senden Max und Kurt.« - Den letzten Satz korrigierte er und schrieb: »Mit freundlichen Grüßen, Max.«

Die Frau, die den Hund theoretisch übernehmen wollte, hatte am frühen Morgen geantwortet: »Okay. Schauen Sie mit Ihrem Hund beim Augenarzt Doktor Harrlich vorbei. Dort arbeite ich.« Und sie hatte die Adresse angegeben. Und die Uhrzeit: 15 bis 17 Uhr. Und sie hatte angefügt: »Bitte befestigen Sie Kurt an einer Leine und statten Sie ihn mit einem Beißkorb aus. Patienten könnten sich sonst fürchten.« Und sie hatte hinzugefügt: »Bitte überprüfen Sie den Beißkorb auf mögliche Durchlässigkeit. Es grüßt Sie: Katrin.«