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Er begann ihnen wieder zu entgleiten. Brenner spürte es. Johannes hatte für einige Minuten den Rückweg aus der Hölle aus Verzweiflung gefunden, in die er hinabgestürzt war, aber es war nur ein letztes Aufbegehren gewesen. Vielleicht war schon zu viel von ihm auf der anderen Seite der Barriere, war das Gewicht seiner Schuld, das ihn in den Abgrund zerren wollte, einfach zu gewaltig. Ihnen blieben bestenfalls noch einige Augenblicke.

»Salid hat recht«, sagte er hastig. Er fühlte sich hilflos, und genau so klangen seine Worte auch, hilflos und einfach nur verzweifelt. Sie brauchten Johannes. Er wußte nicht einmal, wozu, aber sie brauchten ihn. Jeder von ihnen hatte eine Aufgabe hier, und Johannes' Aufgabe war noch nicht erfüllt. »Bitte, Johannes, geben Sie nicht auf. Kämpfen Sie! Wir … wir brauchen Sie!«

»Wozu?« fragte Johannes mit einem traurigen Lächeln. »Um noch mehr Menschen zu töten? Um noch ein Leben auszulöschen?« Er schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht zulassen.«

»Keiner von uns wird noch irgend etwas tun, wenn wir noch lange hier herumstehen und reden«, sagte Salid. »Sie haben gesagt, Sie wüßten den Weg, Brenner. Also?«

Er wußte den Weg. Er war ihn schon einmal gegangen, und das Wissen war da, griffbereit, aber immer, wenn er die Hand danach ausstrecken wollte, glitt es zwischen seinen Fingern hindurch wie ein Fisch im Wasser. Sie waren ganz nahe. Er war schon einmal biergewesen. Sie waren schon einmal biergewesen, das Mädchen Astrid und er – seine große Lüge. Er hatte ihr Sicherheit versprochen, und was er ihr gebracht hatte, das war derTod. Sie war vor seinen Augen zu Asche verbrannt.

Vor derTür, hinter der die Treppe begann.

Er drehte sich auf dem Absatz herum und deutete in denTorbogen zurück. »Dort«, sagte er. »DieTür auf der linken Seite.« Salid war der erste, der in das gemauerte Gewölbe zurückging und an die Tür trat. Sie war verkohlt. Die oberste Schicht Holz war zu grauer Schlacke verbrannt und gerissen, aber sie hatte den Höllengluten trotzdem standgehalten, die auch hier gewütet hatten. Als Brenner neben ihm anlangte und die Hand nach dem Griff ausstrecken wollte, machte er eine abwehrende Geste und bedeutete ihnen gleichzeitig, zurückzutreten. Er selbst wechselte das Gewehr von der linken in die rechte Armbeuge, legte den Zeigefinger auf den Abzug und streckte dann den anderen Arm aus, um die Tür zu öffnen.

Brenners Herz begann schneller zu schlagen. Plötzlich schrie alles in ihm danach, Salid zurückzureißen und zu laufen, so schnell er nur konnte. Etwas Furchtbares, etwas Unvorstellbares würde geschehen, wenn jemand dieseTür öffnete.

Salid bewegte den verkohlten Riegel. Er zerbröselte unter seinen Fingern, aber die Tür öffnete sich. Ein unheimliches, flackerndes rotes Licht fiel heraus und überzog Salids Gesicht und Hände mit der Farbe von frischem Blut.

Nichts geschah. Die Dämonen der Hölle stürzten sich nicht auf Salid, um ihn in ihr düsteres Reich hinabzuzerren, und auch Satan persönlich erschien nicht. Hinter der verbranntenTür lagen die obersten Stufen einer offensichtlich aus dem gewachsenen Fels herausgemeißelten Treppe, erhellt vom flackernden Licht einer Fackel, die irgendwo an ihrem unteren Ende brennen mußte. Sonst nichts. Sonst nichts.

»Sehen Sie?« sagte Salid. Er versuchte zu lächeln, aber es wirkte ebenso unecht wie die Erleichterung, die er mit seinen Worten zum Ausdruck bringen wollte. »Nichts passiert.«

Er ließ das Gewehr sinken und entspannte sich, und im gleichen Moment ertönte ein peitschender Knall.

Seine Kleider hatten gebrannt. Die Hitze hatte sein Haar zu Asche versengt und seine Hände mit roten, nässenden Blasen überzogen, so daß es aussah, als trüge er feuchte rote Gummihandschuhe, und er vermutete, daß sein Gesicht auch keinen wesentlich anderen Anblick bot. Wenn er atmete, dann schrie jeder einzelne Nerv in seiner Kehle vor Schmerz auf, und seine Lungen, die tausend Grad heiße Luft eingesogen hatten, schickten weißglühende Schmerzpfeile in jeden Winkel seines Körpers. Trotzdem lebte er noch.

Kenneally konnte nicht sagen, wie er aus dem Helikopterwrack herausgekommen war. Er erinnerte sich daran, aber es schienen die Erinnerungen eines anderen zu sein. Es mußte so sein, denn wenn die Bilder, die in seinem Kopf waren, wirkliche Erinnerungen gewesen wären, dann hätte das bedeutet, daß er, eingehüllt in einen Mantel aus loderndem Feuer, direkt aus dem Wrack herausmarschiert wäre, brennend wie ein Dämon aus tiefsten Abgründen der Hölle und über schmelzendes Metall hinwegschreitend, ein Wesen, dessen Element das Feuer war, das Hitze atmete und in dessen Adern flüssige Lava pulsierte.

Natürlich war das nicht möglich. Es war eine Halluzination darin hatte er ja mittlerweile Übung – , einTrugbild, ausgelöst durch die vermeintlicheTodeserfahrung und die Qualen, die er litt. Die Wahrheit war wohl eher, daß er aus dem Wrack herausgeschleudert worden war, so daß ihn die unmittelbare Wucht der Explosion nicht erfassen konnte. Es spielte auch keine Rolle. Er lebte, und das war alles, was im Moment wichtig war.

Kenneally machte sich nichts vor. Er hatte genug Erfahrung in solchen Dingen, um zu wissen, daß seine Verletzungen mit ziemlicher Sicherheit tödlich waren. Er würde sterben, und wenn nicht, dann den Rest seines Lebens als entstellter Krüppel im Rollstuhl zubringen, was für ihn die schlimmere Alternative darstellte. Aber er lebte jetzt, und der Schock und die Unmengen von Adrenalin, die seinen Blutkreislauf überfluteten, schützten ihn sogar noch vor den schlimmsten Schmerzen. Dieser Zustand würde nicht lange anhalten, das wußte er. Geschichten von Männern, die mit tödlichen Verletzungen oder abgerissenen Gliedmaßen noch stundenlang weitergekämpft hatten, gehörten ins Reich der Legenden. Ihm blieben bestenfalls Minuten. Aber vielleicht reichte diese Frist, um seine Aufgabe zu Ende zu bringen und Salid und einen oder auch beide andere zu erschießen. Danach – wenn seine Kraft noch reichte – würde er sich selbst töten.

Die Ruine des Klosters schien unendlich weit entfernt zu sein. Aus den Sekunden, die der Helikopter gebraucht hätte, um die Distanz zurückzulegen, wurde eine nicht enden wollende Tortur, die ihn mit jedem Schritt eine Winzigkeit mehr Kraft zu kosten schien, als er aufbringen konnte. Seine Füße hinterließen blutige Abdrücke im Schnee, und er spürte, wie das Leben aus unzähligen winzigen Wunden aus ihm herausfloß; nicht einmal schnell, aber unerbittlich. Vielleicht hatte das Schicksal sich ja eine n besonders grausamen Scherz für das Ende aufbewahrt – etwa den, daß er Salid gerade noch sehen konnte, aber nicht mehr die Kraft hatte, auf ihn anzulegen und abzudrücken.

Nach hundert Ewigkeiten erreichte er das Tor. Er nahm es nicht wirklich zur Kenntnis. Der Weg hierher hatte ihn in eine Maschine verwandelt, die zu nichts anderem mehr fähig war, als einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich weiterzuschleppen, nicht mehr dazu, zu sehen, wohin er ging. Er prallte gegen die Mauer, stürzte mit einem laut losen Schmerzensschrei zurück und blieb hilflos wie eine auf den Rücken gefallene Schildkröte liegen. Er wußte nicht mehr, wo er war. Wer er war. Was er hier sollte.

Halt. Das stimmte nicht. Salid. Der Mann, der dich richten wird. Er mußte Salid töten. Er wußte nicht mehr, wer oder was dieser Salid war, geschweige denn, warum er ihn töten sollte. Er wußte nur, daß er es tun mußte. Es war wichtig. Wichtig für ihn. Wenn es ihm nicht gelang, dann war alles, woran er sein Leben lang geglaubt hatte, falsch gewesen.

Aus einem winzigen, bisher unentdeckten Reservoir an Kraft in seinem Körper nahm er die Energie, sich auf den Bauch zu wälzen und sogar mühsam auf Hände und Knie hochzustemmen. Seine Handflächen schienen zu explodieren, als er sie mit seinem vollen Körpergewicht belastete. Es war, als griffe er in glühende Glasscherben. Trotzdem stemmte er sich weiter hoch, kam irgendwie auf die Füße und taumelte in denTorbogen hinein. Er war fast blind, aber er konnte noch hören. Geräusche. Das leise Säuseln des Windes. Das Wispern und Flüstern des Waldes. Schritte. Stimmen?