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Stimmen. Salids Stimme.

Die Erkenntnis öffnete die Ventile zu einem weiteren, bisher unentdeckten Potential, aber auch zu einem weiteren Begreifen: nämlich dem, daß er jetzt von den absolut letzten Reserven zehrte, jenen Energien, die für das Leben selbst zuständig waren und nicht für Dinge wie Bewegung, Gedanken und Handeln. Er verbrauchte seine Lebenskraft. Jeder Atemzug, den er von jetzt an tat, kostete ihn ein Jahr. Aber er brauchte auch nicht mehr viel Zeit. Ein paar Sekunden. Nicht mehr, als not tat, ein Gewehr zu heben und einen Finger zu krümmen.

Sein Denken klärte sich noch einmal, und er konnte auch plötzlich wieder ein bißchen besser sehen. Salid und die beiden anderen standen nur wenige Schritte vor ihm. Er erkannte Salid auf die gleiche Weise wie vorhin: Er war der einzige, der eine Waffe trug.

Der Mann, der dich richten wird? Nein.

Er glaubte nicht an diesen Humbug. Das alles war nicht wahr. Aberglaube. Etwas für primitive Völker und schlichte Gemüter, nicht für einen Mann wie ihn, der mehr über das Leben und denTod erfahren hatte, als er wollte. Er würde

diesem verdammten Insektenmann beweisen, daß es nicht wahr war. Er würde sterben, aber nicht von Salids Hand.

Kenneally hob das Gewehr, zielte und drückte ab.

Salid keuchte, torkelte gegen die Wand und schlug beide Hände gegen den Hals. Zwischen seinen Fingern quoll hellrotes, sprudelndes Blut in einem pulsierenden Strom hervor. Würgend fiel er zu Boden, wälzte sich auf den Rücken und wieder zurück und lag dann plötzlich still. Seine Bewegungen endeten so abrupt wie die einer Maschine, deren Stecker herausgezogen worden war.

Der Schuß hätte ebensogut Brenner selbst treffen können. Für einen Moment glaubte er sogar den Schmerz zu spüren, der Salids Leben auslöschte, dann machte sich ein Gefühl sonderbar prickelnder Lähmung in seinen Gliedern breit. Er empfand nicht einmal mehr wirklichen Schrecken, als hätte er seine Gefühle nun endgültig bis zur Neige ausgeschöpft, und da war einfach nichts mehr, was er noch spüren konnte. Johannes schlug neben ihm entsetzt die Hand vor das Gesicht und stieß ein halblautes Schluchzen aus, aber auch das nahm Brenner kaum mehr zur Kenntnis. Er fragte sich, warum, doch selbst diese Frage stellte er sich nicht mehr verbittert oder zornig, sondern mit kalter, fast wissenschaftlicher Neugier. Es war so sinnlos. Warum waren sie so weit gekommen? Nur damit Salid hier, an diesem Ort, starb?

Er hörte ein Geräusch, und als er aufsah, taumelte eine Alptraumgestalt auf sie zu. In der düsteren Beleuchtung des Torbogens war er fast nur als Schemen zu erkennen, aber das machte es nicht besser, sondern beinahe schlimmer, denn es ließ seiner Phantasie genug Spielraum, um die Schrecken zu komplettieren, die seine Augen mehr errieten als sahen.

Der Mann mußte gebrannt haben. Sein Anzug war zu einem Gespinst aus grauer Asche und halb verkohlten Fäden geworden, die sich überall in sein Fleisch hineingefressen zu haben schienen. Gesicht, Schädel und Hände waren eine einzige, fürchterliche Brandwunde, hier und da von großen Flecken aus geronnenem Blut bedeckt, wie schorfiger Ausschlag. Brenner war nicht sicher, ob der Verbrannte überhaupt noch sehen konnte; seine Augen waren zugeschwollen, vielleicht gar nicht mehr da, und die Lippen durch die Einwirkung unvorstellbarer Hitze zu einem immerwährenden Grinsen zurückgezogen. Er torkelte, weil mindestens eines seiner Beine gebrochen war, und seine Schritte hinterließen blutige Fußabdrücke auf dem Boden. Die Erscheinung hatte kein Recht mehr, am Leben zu sein, geschweige denn, sich zu bewegen. Aber sie war da, schlurfte taumelnd wie die böse Karikatur eines Menschen auf sie zu und schleifte zu allem Überfluß auch noch die ausgeglühten Reste eines Gewehres hinter sich her. Wenn er mit dieser Waffe geschossen hatte, dann war es ein Wunder, daß sie ihm nicht in den Händen explodiert war.

Das Entsetzen, auf das Brenner wartete, kam noch immer nicht. Er begriff nur, daß seine Angst von vorhin berechtigt gewesen war. Der Dämon war da, nur daß er nicht hinter der Tür gelauert hatte, sondern auf der anderen Seite, verborgen in der Schwärze der letzten, immerwährenden Nacht, die sich über der Welt ausgebreitet hatte. Er hatte Salid geholt, und er würde nun sie holen, zuerst Johannes, dann ihn. Er hätte davonlaufen können; das … Ding, das da auf so groteske Weise herangehumpelt und – geschlurft kam, war nicht schnell. Er mußte nicht einmal rennen, um ihm zu entkommen.

Aber wozu? Wohin?

Es gab nichts mehr, wohin sie flüchten konnten.

Und Brenner war des Davonlaufens endgültig müde. Er war sein ganzes Leben lang davongelaufen, vor irgend etwas oder irgend jemandem – meistens vor sich selbst – , aber nun wollte er nicht mehr.

Doch die Alptraumgestalt war nicht gekommen, um ihn zu vernichten. Sie schleppte sich weiter mit kleinen, mühevollen Schritten heran. Ihre linke Schulter streifte an der Wand entlang und hinterließ eine dunkelrote Spur auf dem Ruß, und als sie näherkam, spürte Brenner den Geruch von verbranntem Fleisch und heißem Metall, der sie umgab. Er machte keinen Versuch, vor ihr zurückzuweichen, aber der verbrannte Mann unternahm seinerseits nichts, um Johannes oder ihm etwas zuleide zu tun. Torkelnd näherte er sich Salids Leiche, blieb dicht hinter ihr stehen und hob sein Gewehr. Die Mündung zielte kurz auf Salids Kopf, aber die Finger hatten wohl nicht mehr die Kraft, den Abzug zu betätigen. Nach wenig mehr als einer Sekunde ließ er die Waffe wieder sinken. Seine Hände öffneten sich. Das Gewehr fiel klappernd zu Boden. Er taumelte, stieß einen seltsamen, gurgelnden Laut aus, ein Geräusch, als versuche er mit Stimmorganen zu reden, die nicht mehr da waren, und streckte die Hand nach Brenner aus. In der Bewegung lag nichts Drohendes. Es sah mehr aus wie ein verzweifeltes Flehen nach Hilfe.

Brenner wich nun doch vor der fürchterlichen Gestalt zurück; nicht aus Angst, sondern simplem Ekel, den der Anblick der verstümmelten Hand und der Geruch in ihm wachriefen. Der verbrannte Mann ließ den Arm wieder sinken, wandte sich mit einem fast flehenden Blick an Johannes und drehte sich schließlich zur Tür herum. Das flackernde rote Licht aus der Tiefe verschmolz mit der Farbe dessen, was einmal sein Gesicht gewesen war, und nun sah er endgültig aus wie der Dämon, für den Brenner ihn im ersten Augenblick gehalten hatte. Er taumelte, machte einen unbeholfenen Schritt auf die Tür zu und blieb so dicht vor der obersten Stufe stehen, daß er in die Tiefe stürzen würde, wenn er das Gleichgewicht verlor.

Salid bewegte sich. Brenner registrierte die Bewegung nur aus den Augenwinkeln, und im allerersten Moment nahm er sie nicht einmal richtig zur Kenntnis; etwas, das einfach nicht sein konnte, denn Salid war tot. So tot, wie es nur ging. Die Kugel hatte seinen Hals zerfetzt, und er la g in einer unglaublich großen Blutlache. Trotzdem bewegte er sich. Tod und Leben waren nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren.

Langsam, mit sehr mühevollen, nichtsdestoweniger aber auch sehr zielgerichteten Bewegungen stemmte er sich hoch und griff nach seinem Gewehr. Das Geschoß schien nicht nur seine Muskeln und Sehnen, sondern auch den Knochen zertrümmert zu haben, denn sein Kopf pendelte haltlos von einer Seite auf die andere, aber seine Hände hielten das Gewehr sicher und sehr fest. Das helle Klicken, mit dem er die Patrone in den Lauf schob, hallte wie ein Kanonenschuß von den Wänden des Torgewölbes wider.

Dann geschah alles gleichzeitig.

Der verbrannte Mann drehte sich herum und starrte Salid an. Seine Augen weiteten sich, und trotz der Verheerung, der seine Züge anheim gefallen waren, konnte Brenner den Ausdruck grenzenlosen Erschreckens erkennen, der sich plötzlich darauf breit machte. »Also doch«, flüsterte er.

Gleichzeitig jedoch schrie Johannes so gellend auf, als wäre er es, den die tödliche Kugel getroffen hätte. »Nein!« schrie er. »Nein! Nicht schon wieder! Ich lasse es nicht zu! NICHT MEHR!«

Er sprang vor, ohne Rücksicht darauf, daß er damit genau zwischen Salid und den verbrannten Mann geriet, und damit direkt in die Schußlinie. Mit einer verzweifelten Bewegung klammerte er sich an Salid und versuchte ihm die Waffe zu entreißen, aber er kam einen Sekundenbruchteil zu spät. Vielleicht war er es sogar selbst, der durch seinen Aufprall den Abzug betätigte.