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Zum erstenmal, seit sie den Wagen stehengelassen hatten, kam Brenner der Gedanke, daß dieser Ausflug vielleicht mit etwas mehr als ein paar Unbequemlichkeiten enden könnte. Es war kälter geworden – nicht nur subjektiv, in seiner Einbildung, sondern tatsächlich. Während der letzten zehn Minuten hatte der Himmel begonnen, eine unangenehme stumpfgraue Farbe anzunehmen, die eine deutliche Sprache sprach; eine Sprache, deren Wortschatz aus Begriffen wie Schnee, Kälte und Wind

bestand, aber auch aus Unterkühlung, erfrorenen Zehen, Lungenentzündung und Fieber.

Brenner verzog das Gesicht. Ihre Lage war schlimm genug, auch ohne daß er sich selbst noch zusätzlich fertigmachte. Sie waren seit gut zwanzig Minuten unterwegs – wie weit konnte ein Mensch in zwanzig Minuten gehen? Einen Kilometer? Zwei? Kaum mehr – und die Straße vor ihnen war noch immer so leer und makellos weiß wie im ersten Moment. Nirgends ein Schild, keine Kreuzung, kein Hinweis darauf, daß sich in diesem Winkel des Universums seit dem frühen Pleistozän irgendwelches Leben geregt hätte.

Er wandte im Gehen den Kopf und sah den Weg zurück, den sie gekommen waren. Bäume, Schnee, noch mehr Bäume und noch mehr Schnee. Hübsch. Romantisch, wenn man ihn auf einer Postkarte oder einem Kalenderfoto sah. Wenn man mit nassen Füßen hindurchlatschte und bei jedem Schritt bis über die Knöchel in eisigem Schnee versank, verlor der Anblick allerdings eine Menge von seiner Faszination. Zumindest sickerte ihm der Schnee jetzt nicht mehr in die Schuhe – sie waren bereits randvoll.

Brenners Blick folgte der doppelten Spur, die Astrid und er hinterlassen hatten. Sie sah irgendwie seltsam aus. Seine eigene Fährte verlief schnurgerade einen knappen halben Meter neben dem Straßenrand entlang, während die des Mädchens einer Art flacher Sinuskurve ähnelte: Mal führte sie parallel neben seiner eigenen entlang; mal, immer dann, wenn ihr aufgefallen war, daß sie dem natürlichen Feind ihrer Spezies – einem Erwachsenen – zu nahe zu kommen drohte, bewegte sie sich ein Stück zur Straßenmitte hin, um schließlich langsam wieder zurückzukehren: ein Satellit, der vergeblich versuchte, der Anziehungskraft seines größeren Begleiters zu entrinnen.

Brenner philosophierte einen Moment lang darüber, ob diese Spuren vielleicht symptomatisch für ihrer beider Leben war: das unentschlossene und am Ende doch regelmäßige Auf und Ab des Mädchens und das zielbewußte – und langweilige – Geradeaus seines eigenen Weges? Was Astrid anging, so kannte er sie nicht gut genug, um darüber zu urteilen; aber er vermutete es. Auch er war schließlich einmal sechzehn gewesen, nicht annähernd so renitent wie Astrid, aber doch in Maßen aufsässig. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er kapierte, daß das, was er für ein Aufbegehren gegen Konventionen und starre Regeln hielt, nur das Befolgen anderer Konventionen und Regeln war. Die Astrids der Welt benahmen sich im Grund ebenso berechenbar wie die Brenners. Und was sein Leben anging … nun, was war gegen Langeweile zu sagen, solange sie hinlänglich bequem und finanziell abgesichert war?

»Worauf wartest du?« fragte Astrid. »Daß ein rettender Engel vom Himmel steigt?«

»Einer in einem gelben Wagen mit Münchener Kennzeichen würde mir schon reichen«, antwortete Brenner. Er grinste dümmlich. »Hast du Interesse an einem ADAC-Schutzbrief? Ich kann ihn dir vermitteln, zu günstigen Konditionen. Jeder sollte einen haben. Ohne die gelben Engel ist man aufgeschmissen, glaub mir.«

Astrid blickte ihn verständnislos an. Das Mädchen befand sich wieder auf dem näherkommenden Teil seines Kurses, und Brenner versuchte den Punkt abzuschätzen, an dem es seinen Fehler bemerken und den Sicherheitsabstand wieder vergrößern würde.

»Ich denke darüber nach, daß ich diese Geschichte später einmal meinen Enkeln erzählen kann, weißt du?« fuhr er fort. »Wenn ich sie vor dem Kaminfeuer auf den Knien schaukele. Das große Abenteuer meines Lebens.«

Astrids Blick spiegelte nun vollkommene Verständnislosigkeit. Eine Sekunde lang. Dann sagte sie: »Wenn wir nicht bald irgendwo hinkommen, wo es warm ist, dann wirst du niemals Enkel haben, weil du dir nämlich die Eier abfrierst.«

Zweifellos hatte sie das aus dem einzigen Grund gesagt, um das Wort Eier zu benutzen. Und ebenso zweifellos hatte sie nicht ganz unrecht damit. Sie waren jetzt seit zwanzig Minuten unterwegs, und schon das war mehr, als Brenner sich unter diesen Umständen vorher zugetraut hätte. Plötzlich begriff er, daß sie wirklich in Gefahr waren; vielleicht nicht unbedingt in Lebensgefahr, aber in Gefahr. Daß er es sich bis jetzt nicht wirklich eingestanden hatte, lag wohl weniger an Dingen wie Ignoranz oder übergroßem Mut als vielmehr an dem Leben, das er bis jetzt geführt hatte. Gefahr gehörte einfach nicht dazu nicht diese Art von Gefahr. Die einzig konkreten Gefahren, mit denen Menschen wie er zu rechnen hatten, waren Herzinfarkte, Steuererklärungen, Lungenkrebs, allenfalls noch ein Verkehrsunfall; aber kaum die, zwanzig Kilometer von der nächsten menschlichen Ansiedlung entfernt im Schnee zu erfrieren. Gefahren dieser Art gehörten in Videofilme und Bücher, wo man sie mit dem wohligen Schauer des nicht unbedingt unbeteiligten, aber doch ungefährdeten Zuschauers genießen konnte.

Außerdem – wann war das letzte Mal ein Mensch in diesem Land erfroren? Im letzten Krieg? Vor zwanzig Jahren? Zehn? Brenner hatte keine Ahnung, war aber sicher, daß es lange her war. Niemand hatte in einer Welt, die so von Medien beherrscht wurde wie diese, eine Chance, einer solchen Nachricht zu entgehen.

Vielleicht, dachte er finster, hatten sie ja bereits morgen eine neue Sensation. Oder im nächsten Frühjahr, wenn der Schnee schmolz und ihre steifgefrorenen Leichen freigab. Er sah die Schlagzeilen direkt vor sich: SCHNEEMENSCH VOM TAUNUS ENTDECKT. WAREN ER UND SEIN WEIBCHEN AUF DER FLUCHT VOR EINER MAMMUT HERDE, ALS DIE EISZEIT ÜBER SIE HEREINBRACH?

Dieser alberne Gedanke erschien ihm für einen Moment so komisch, daß er über das ganze Gesicht grinste. Astrid holte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück, indem sie fragte: »Hast du in deinem Angebot eigentlich auch eine Versicherung gegen Dummheit?«

»Ja«, antwortete Brenner. »Aber ich habe die letzte Prämie nicht überwiesen. Das wolltest du doch hören, oder?«

Die Schärfe in seinen Worten überraschte ihn selbst. Offenbar setzte ihm die Kälte doch mehr zu, als er wahrhaben wollte. Er begann launisch zu werden. Aber das war auch kein Wunder.

Er fror erbärmlich, und aus seinen Füßen war mittlerweile jedes Gefühl gewichen, auch – und das beunruhigte ihn erheblich – die Schmerzen. Fingen Erfrierungen so an?

Astrid wirkte jetzt völlig verstört. Aber die Härte, die für einen Moment aus ihren dunklen Augen gewichen war, kehrte zurück. Zu spät wurde ihm klar, daß die Beleidigungen und das, was sie für Offenheit hielt, wohl zu ihrer extrovertiertaufsässigen Art gehörten, Vertrauen zu fassen. Er hatte diesen Versuch vereitelt, und vielleicht auf Dauer. Andererseits – was kümmerte es ihn?

Dann tat sie etwas, was ihn überraschte. Sie blieb stehen, zog mit klammen Fingern die Marlboro-Packung aus derTasche und hielt sie ihm hin. Sie enthielt noch zwei Zigaretten.

Ein Friedensangebot? Ja, entschied er.

Brenner war nicht nach Rauchen, aber er begriff die Geste und wollte die Kleine kein zweites Mal vor den Kopf stoßen. Also griff er mit tauben Fingern nach der Zigarette, klemmte sie sich zwischen die ebenso tauben Lippen und ließ sich von dem Mädchen Feuer geben.

Seine Lippen und seine Kehle waren so kalt, daß er den Rauch nicht einmal mehr schmeckte. Trotzdem versuchte er wenigstens so etwas wie die Andeutung eines Lächelns auf sein Gesicht zu zaubern. »Danke.«

Astrid nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch gleich darauf durch die Nase wieder aus. Brenner war sicher, daß sie nur mühsam ein Husten unterdrückte. Sie wedelte mit der Hand vor dem Gesicht, um den Rauch zu vertreiben, der ihr schon wieder in die Augen zu steigen drohte.

»Du rauchst noch nicht sehr lange, wie?« fragte er. Astrid sah ihn nur an, und er fühlte sich aus irgendeinem Grund genötigt, hinzuzufügen: »Du solltest es lassen.«