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Ich verlasse die Polizeiwache, und es ist ein schöner Tag, ein sonniger Sonntag, an dem nichts zu meinem Seelenzustand paßt. Mein Anwalt erwartet mich draußen mit ein paar Trostworten und einem Blumenstrauß. Er sagt, er habe alle Krankenhäuser angerufen (etwas, was man immer macht, wenn jemand nicht nach Hause kommt), habe aber Esther nicht gefunden. Er sagt, er habe zum Glück verhindern können, daß die Journalisten herausfanden, wo ich in Haft war.

Er sagt, er müsse mit mir reden, um eine juristische Verteidigungsstrategie gegen eine mögliche Anklage zu entwickeln. Ich danke ihm für seine Umsicht; ich weiß, daß er keine juristische Strategie ausarbeiten will − tatsächlich will er mich nicht allein lassen, weil er unsicher ist, wie ich reagieren werde (ob ich mich betrinken werde und wieder in Haft komme? Ob ich einen Skandal anzetteln will? Einen Selbstmordversuch mache?). Ich sage ihm, ich hätte wichtige Dinge zu erledigen, und er wisse so gut wie ich, daß ich kein Problem mit dem Gesetz habe. Er läßt nicht locker, doch ich lasse ihm keine Wahl − schließlich bin ich ein freier Mann.

Freiheit. Die Freiheit, elendiglich allein zu sein.

Ich nehme ein Taxi ins Zentrum von Paris, bitte, beim Arc de Triomphe zu halten. Ich gehe über die ChampsElysees in Richtung Hotel Bristol, wo Esther und ich immer eine heiße Schokolade getrunken hatten, wenn einer von uns beiden von einer Auslandsreise zurückkehrte. Es war eine Art Heimkehrritual, ein Eintauchen in die Liebe, die uns verband, auch wenn uns das Leben immer häufiger auf verschiedene Wege trieb.

Ich gehe weiter. Die Menschen lächeln, die Kinder freuen sich über das frühlingshafte Wetter noch mitten im Winter, der Verkehr fließt, alles scheint in Ordnung zu sein − nur weiß von diesen Menschen keiner − und würde sich auch nicht dafür interessieren −, daß ich gerade meine Frau verloren habe. Merkt man etwa nicht, wie sehr ich leide? Alle müßten traurig sein, Mitleid haben, solidarisch sein mit einem Mann, dessen Herz blutet; aber sie lachen weiter, sind in ihrem eigenen kleinen Leben gefangen, das außerdem nur am Wochenende stattfindet.

Wie lächerlich von mir! Viele der Menschen, denen ich begegne, sind wahrscheinlich auch todtraurig, und ich weiß auch nicht, warum und wie sie leiden.

Ich betrete eine Bar, um Zigaretten zu kaufen, man spricht mich auf englisch an; ich gehe in eine Apotheke, um meine Lieblingssorte Pfefferminzbonbons zu kaufen, und der Apotheker redet englisch mit mir − obwohl ich beide auf französisch angesprochen habe. Vor dem Hotel Bristol fragen mich zwei Jungen, die gerade aus Toulouse angekommen sind, nach einem bestimmten Laden; sie fragen auch noch andere, aber niemand versteht, was sie sagen. Was ist das? Was ist hier los? Hat in den vierundzwanzig Stunden, in denen ich in Haft war, die Sprache auf den ChampsElysees gewechselt?

Tourismus und Geld können Wunder wirken: Warum hatte ich das nicht schon früher gemerkt? Weil Esther und ich offensichtlich schon lange keine Schokolade mehr zusammen getrunken hatten, auch wenn wir beide in dieser Zeit mehrfach verreist und wieder nach Hause gekommen waren. Es gab immer etwas Wichtigeres. Es gab immer eine unaufschiebbare Verabredung. Ja, meine Liebe, wir werden nächstes Mal unsere Schokolade trinken, komm schnell zu mir, du weißt, daß ich heute ein wirklich wichtiges Interview habe und dich nicht vom Flughafen abholen kann.

Nimm ein Taxi, mein Handy ist angestellt, du kannst mich anrufen, wenn etwas Dringendes ist, ansonsten sehen wir uns heute abend.

Mein Handy! Ich ziehe es aus der Tasche, wähle mich ein, es klingelt ein paarmal, jedesmal macht mein Herz einen Satz, ich sehe die Namen der Leute, die mich sprechen wollten, auf dem kleinen Bildschirm, rufe aber niemanden zurück. Vielleicht ist ja eine Nummer »ohne Identifikation«

darunter: Das würde nur sie sein können, denn ihre Telefonnummer kennen kaum mehr als zwanzig Leute, die geschworen hatten, sie niemals weiterzugeben. Es erscheint keine anonyme Nummer, nur Nummern von Freunden oder von mir nahestehenden Kollegen. Sicher wollen sie wissen, was passiert ist, wollen helfen (aber wie?), fragen, ob ich etwas brauche.

Das Telefon klingelt wieder. Soll ich rangehen? Soll ich mich mit einem dieser Menschen treffen?

Ich beschließe, allein zu bleiben, bis ich das Geschehene verarbeitet habe.

Ich betrete das Bristol, das Esther immer als eines der wenigen Hotels beschrieben hat, in dem die Kunden wie Gäste behandelt werden und nicht wie Obdachlose, die ein Dach über dem Kopf suchen. Man begrüßt mich, als gehörte ich zum Haus, ich wähle einen Tisch vor einer schönen Uhr, höre dem Piano zu, schaue nach draußen in den Garten.

Ich muß pragmatisch vorgehen, die Alternativen durchspielen, das Leben geht weiter. Ich bin weder der erste noch der letzte Mann, der von seiner Frau verlassen wird − aber warum muß das ausgerechnet an einem sonnigen Tag passieren, an dem es nur lächelnde Menschen auf der Straße gibt, an dem die Kinder singen, sich der Frühling ankündigt, die Sonne strahlt, die Autofahrer an den Zebrastreifen halten?

Ich nehme eine Serviette, möchte diese Gedanken aus meinem Kopf herausholen und auf dem Papier festhalten. Lassen wir Gefühle beiseite, und sehen wir, was ich tun kann.

a) Angenommen, sie wurde tatsächlich entführt und ihr Leben ist in diesem Augenblick wirklich in Gefahr: Ich bin ihr Mann, ihr Gefährte in allen Lebenslagen, ich muß Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie zu finden.

Dagegen spricht: Sie hat ihren Paß dabei. Die Polizei weiß es nicht, aber sie hat auch ein paar persönliche Dinge mitgenommen, auch eine Brieftasche mit ihren Schutzheiligen, die sie immer bei sich trägt, wenn sie ins Ausland reist.

Sie hat Geld von der Bank abgehoben.

Schlußfolgerung: Sie hatte sich darauf vorbereitet, zu gehen.

b) Angenommen, sie wurde in einen Hinterhalt gelockt.

Dafür spricht, daß sie sich häufig in gefährliche Situationen begeben hat − das gehörte zu ihrer Arbeit. Aber sie hat mir immer vorher Bescheid gesagt, denn ich war der einzige Mensch, dem sie vollkommen vertraute. Sie sagte mir immer, wo sie sein, mit wem sie Kontakt aufnehmen werde (obwohl sie, um mich nicht in Gefahr zu bringen, meistens den Decknamen der Leute gebrauchte), und was ich zu tun hätte, falls sie nicht um eine bestimmte Uhrzeit wieder da sei.

Schlußfolgerung: Sie hatte nicht die Absicht, einen ihrer Informanten zu treffen.

c) Angenommen, sie hat einen anderen Mann getroffen.

Diese Annahme kann ich nicht beurteilen. Aber es ist die einzige Hypothese, die einen Sinn ergibt. Doch ich kann das nicht hinnehmen, ich kann nicht hinnehmen, daß sie einfach so geht, ohne mir wenigstens zu sagen, warum.

Sowohl Esther als auch ich waren immer stolz darauf, alle Schwierigkeiten im Leben gemeinsam anzugehen. Wir haben gelitten, uns aber niemals angelogen − auch wenn es zu den Spielregeln gehörte, den einen oder anderen Seitensprung zu verschweigen. Ich weiß, daß sie sich sehr verändert hat, seit sie diesen Mikhail kennengelernt hat, aber rechtfertigt das den Bruch mit einer zehnjährigen Ehe?

Selbst wenn sie mit ihm geschlafen, sich verliebt haben sollte, würde sie nicht alle unsere gemeinsamen Augenblicke, alles, was wir erreicht haben, auf eine Waage legen, bevor sie zu einem Abenteuer ohne Wiederkehr aufbrach?

Sie war frei, zu reisen, wohin sie wollte, sie lebte umgeben von Männern, von Soldaten, die lange keine Frau gesehen hatten, ich habe sie niemals gefragt, und sie hat mir nie etwas gesagt. Wir waren beide frei und stolz darauf.