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»Nun ja, da sie krank ist . . .«

»Gewiß, krank ist sie. Aber doch nicht so. Doch nicht so ernstlich krank, daß sie geradezu immer in Sanatorien und von ihrem Manne getrennt leben müßte. Das muß schon weitere und andere Gründe haben. Hier nimmt man allgemein an, daß es noch andere hat. Vielleicht gefällt es ihr nicht in Daghestan hinter dem Kaukasus, einer so wilden, entfernten Gegend, das wäre am Ende nicht zu verwundern. Aber ein wenig muß es doch auch an dem Manne liegen, wenn es ihr so gar nicht bei ihm gefällt. Er hat ja einen französischen Namen, aber darum ist er doch ein russischer Beamter, und das ist ein roher Menschen-schlag, wie Sie mir glauben können. Ich habe einmal einen da-von gesehen, er hatte so einen eisenfarbenen Backenbart und so ein rotes Gesicht ... Im höchsten Grade bestechlich sind sie, und dann haben sie es alle mit dem Wutki, dem Branntwein, wissen Sie . . . Anstandshalber lassen sie sich eine Kleinigkeit zu essen geben, ein paar marinierte Pilze oder ein Stückchen Stör, und dazu trinken sie - einfach im Übermaß. Das nennen sie dann einen Imbiß . . .«

»Sie schieben alles auf ihn«, sagte Hans Castorp. »Wir wissen aber noch nicht, ob es nicht vielleicht an ihr liegt, wenn sie nicht gut miteinander leben. Man muß gerecht sein. Wenn ich sie mir so ansehe und diese Unmanier mit dem Türenwer-fen . . . ich halte sie für keinen Engel, das nehmen Sie mir, bitte, nicht übel, ich traue ihr nicht über den Weg. Aber Sie sind nicht unparteiisch, Sie sitzen ja bis über die Ohren in Vorurteilen zu ihren Gunsten . . .«

So machte er es zuweilen. Mit einer Schlauheit, die seiner Natur eigentlich fremd war, stellte er es so hin, als bedeute Fräulein Engelharts Schwärmerei für Frau Chauchat nicht das, was sie, wie er sehr wohl wußte, in Wirklichkeit bedeutete, son-dern als sei diese Schwärmerei eine selbständige, drollige Tatsa-che, mit welcher er, der unabhängige Hans Castorp, die alte Jungfer aus kühlem und humoristischem Abstande necken konnte. Und da er sicher war, daß seine Helfershelferin diese dreiste Verdrehung gelten und sich gefallen lassen werde, so war nichts damit gewagt.

»Guten Morgen!« sagte er. »Haben Sie wohl geruht? Ich hof-

fe, Sie haben von Ihrer schönen Minka geträumt? . . . Nein, wie Sie gleich rot werden, wenn man sie nur erwähnt! Ganz ver-narrt sind Sie in sie, das leugnen Sie nur lieber nicht!«

Und die Lehrerin, die wirklich errötet war und sich tief über ihre Tasse beugte, raunte aus ihrem linken Mundwinkeclass="underline"

»Aber nein, pfui, Herr Castorp! Das ist nicht schön von Ih-nen, daß Sie mich so in Verlegenheit bringen mit Ihren Anspie-lungen. Alle merken es ja, daß wir es auf sie abgesehen haben, und daß Sie mir Dinge sagen, über die ich rot werden muß . . .«

Es war sonderbar, was die beiden Tischnachbarn da trieben. Itcide wußten, daß sie doppelt und dreifach logen, daß Hans Castorp nur, um von Frau Chauchat sprechen zu können, die Lehrerin mit ihr neckte, dabei aber ein ungesundes und übertra-genes Vergnügen darin fand, mit dem alten Mädchen zu schä-kern, - welches ihrerseits darauf einging: erstens aus kuppleri-schen Gründen, dann auch, weil sie sich dem jungen Manne zu Gefallen wohl wirklich etwas in Frau Chauchat vergafft hatte, und endlich, weil sie es kümmerlich genoß, sich irgendwie von ihm necken und rot machen zu lassen. Dies wußten sie beide von sich und vom anderen und wußten auch, daß jeder es von sich und vom anderen wisse, und das alles war verwickelt und unsauber. Aber obgleich Hans Castorp von verwickelten und unsauberen Dingen im ganzen angewidert wurde und sich auch in diesem Falle davon angewidert fühlte, so fuhr er doch fort, in dem trüben Elemente zu plätschern, indem er sich zur Beruhi-gung sagte, daß er ja nur zu Besuch hier oben sei und demnächst wieder abreisen werde. Mit erkünstelter Sachlichkeit beurteilte er kennerhaft das Äußere der »lässigen« Frau, stellte fest, daß sie von vorn gesehen entschieden jünger und hübscher wirke als im Profil, daß ihre Augen zu weit auseinander lägen und ihre Haltung viel zu wünschen übriglasse, wofür allerdings ihre Ar-me schön und »weich geformt« seien. Und indem er dies sagte, suchte er das Zittern seines Kopfes zu verbergen, wobei er aber nicht nur erkennen mußte, daß die Lehrerin seine vergebliche Anstrengung bemerkte, sondern auch mit dem größten Wider-willen die Wahrnehmung machte, daß sie selber ebenfalls mit dem Kopf zitterte. Auch war es nichts als Politik und unnatürli-che Schlauheit gewesen, daß er Frau Chauchat als »schöne Min-ka« bezeichnet hatte; denn so konnte er weiter fragen:

»Ich sage ›Minka‹, aber wie heißt sie denn eigentlich in

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Wirklichkeit. Ich meine mit Vornamen. So vernarrt, wie Sie un-streitig in sie sind, müssen Sie doch unbedingt ihren Vornamen wissen.«

Die Lehrerin dachte nach.

»Warten Sie, ich weiß ihn«, sagte sie. »Ich habe ihn gewußt. Heißt sie nicht Tatjana? Nein, das war es nicht, und auch nicht Natascha. Natascha Chauchat? Nein, so habe ich's nicht gehört. Halt, ich habe es! Awdotja heißt sie. Oder es war doch etwas in diesem Charakter. Denn Katjenka oder Ninotschka heißt sie nun einmal bestimmt nicht. Es ist mir wahrhaftig entfallen. Aber ich kann es mit Leichtigkeit in Erfahrung bringen, wenn Ihnen daran gelegen ist.«

Wirklich wußte sie am nächsten Tag den Namen. Sie sprach ihn beim Mittagessen aus, als die Glastür ins Schloß schmetter-te. Frau Chauchat hieß Clawdia.

Hans Castorp verstand nicht gleich. Er ließ sich den Namen wiederholen und buchstabieren, bevor er ihn auffaßte. Dann sprach er ihn mehrmals nach, indem er dabei mit rot geäderten Augen zu Frau Chauchat hinüberblickte und ihn ihr gewisser-maßen anprobierte.

»Clawdia«, sagte er, »ja, so mag sie wohl heißen, es stimmt ganz gut.« Er machte kein Hehl aus seiner Freude über die inti-me Kenntnis und sprach jetzt nur noch von »Clawdia«, wenn er Frau Chauchat meinte. »Ihre Clawdia dreht ja Brotkugeln, habe ich eben gesehen. Fein ist das nicht.« »Es kommt darauf an, wer es tut«, antwortete die Lehrerin. »Clawdia steht es.«

Ja, die Mahlzeiten im Saal mit den sieben Tischen hatten den allergrößten Reiz für Hans Castorp. Er bedauerte es, wenn eine davon zu Ende ging, aber sein Trost war, daß er sehr bald, in zwei oder zweieinhalb Stunden, wieder hier sitzen werde, und wenn er wieder hier saß, so war es, als sei er nie aufgestanden. Was lag dazwischen? Nichts. Ein kurzer Spaziergang zum Was-serlauf oder ins Englische Viertel, ein wenig Ruhe im Stuhl. Das war keine ernste Unterbrechung, kein schwer zu nehmendes Hindernis. Etwas anderes, wenn Arbeit, irgendwelche Sorgen und Mühen sich vorgelagert hätten, die im Geiste nicht leicht zu übersehen, zu übergehen gewesen wären. Dies war jedoch nicht der Fall im klug und glücklich geregelten Leben des »Berghofs«. Hans Castorp konnte sich, wenn er von einer ge-meinsamen Mahlzeit aufstand, ganz unmittelbar auf die nächste

freuen, - sofern nämlich »sich freuen« das richtige Wort war für die Art von Erwartung, mit der er dem neuen Zusammensein mit der kranken Frau Clawdia Chauchat entgegensah, und nicht (in zu leichtes, vergnügtes, einfältiges und gewöhnliches. Mög-licherweise ist der Leser geneigt, nur solche Ausdrücke, nämlich vergnügte und gewöhnliche, in bezug auf Hans Castorps Person und sein Innenleben als passend und zulässig zu erachten; aber wir erinnern daran, daß er sich als ein junger Mann von Ver-nunft und Gewissen auf den Anblick und die Nähe Frau Chau-chats nicht einfach »freuen« konnte und, da wir es wissen müssen, stellen wir fest, daß er dies Wort, wenn man es ihm ange-boten hätte, achselzuckend verworfen haben würde.

Ja, er wurde hochnäsig gegen gewisse Ausdrucksmittel, - das ist eine Einzelheit, die angemerkt zu werden verdient. Er ging umher, indes seine Wangen in trockener Hitze standen, und sang vor sich hin, sang in sich hinein, denn sein Befinden war musikalisch und sensitiv. Er summte ein Liedchen, das er, wer weiß wo und wann, in einer Gesellschaft oder bei einem Wohl-tätigkeitskonzert einmal von einer kleinen Sopranstimme gehört und jetzt in sich vorgefunden hatte, - einen sanften Un-sinn, der anfing: