Geist huschte ganz allein durch die Halle der Minenbohrer, vorbei an den Reihen der schlummernden Kolosse. Sie fürchtete sich beim Anblick dieser bedrohlichen Monstrositäten (oder blickten vielmehr sie auf Geist?), und es hätte sie kaum verwundert, wären sie mit einemmal reihum zum Leben erwacht, um Jagd auf sie zu machen.
Sie erreichte das Portal der Halle, ohne aufgehalten zu werden, nicht von Nordling, Zwerg oder Bohrungetüm. Noch einmal schaute sie zurück über den breiten Gang zwischen den Bohrern, zerfurcht von Rädern, die so hoch waren wie Geist selbst. Ein sonderbares Gefühl beschlich sie, die Vorstellung, daß all dies zweihundert Jahre lang unberührt dagestanden hatte und dabei doch so aussah, als wartete es nur darauf, erneut mit Leben erfüllt zu werden.
Sie schüttelte sich, als eine Gänsehaut unter ihren Moospelz kroch. Mit einem Blinzeln, um sich vom geisterhaften Bild der verlassenen Halle zu befreien, warf sie sich herum und sprang durch das offene Tor. Die riesigen Flügel waren aus Stein und ließen sich nur mit Hilfe eines komplizierten Zwergenmechanismus bewegen. Eine eiserne Kurbel an der Außenseite mußte betätigt werden, um ihn in Gang zu setzen.
Geist war überrascht; nach all der Zeit war die Eisenkurbel weder eingerostet noch verkantet. Sie mußte dennoch all ihre Kraft einsetzen, um den Hebel zu drehen. Tief im Felsen setzten sich mit einem Knirschen, gefolgt von leisem Surren, gewaltige Zahnräder in Bewegung. Langsam, sehr langsam, schoben sich die gewaltigen Steinflügel aufeinander zu. Erst als nur noch ein Spalt offen stand, gerade breit genug, um Löwenzahns Schultern hindurchzulassen, brachte Geist das Portal zum Stillstand.
Sie trat in den Spalt, schaute zur Stollenöffnung auf der anderen Seite und lauschte. Auf Stimmen vielleicht; auf das Kampfgeschrei der Nordlandkrieger; auf das Donnern einer Wasserflut.
Doch da war nur Stille, das eherne Schweigen der Minenbohrer, träumend von den glanzvollen Zeiten des Zwergenvolkes. Eine Stille, beängstigender als jeder Feind. Und in einem Moment vollkommener Klarheit erkannte Geist, daß es genau das war, was sie in den vergangenen zwei Jahren so gefürchtet hatte und doch jetzt erst völlig verstand: Die Stille, das lautlose Sterben dieses uralten Berges, war vielleicht der schlimmste Feind von allen.
Alberich saß in einer Schneise im Holzbuckel des Minenbohrers und legte einen Hebel um, der halb so groß war wie er selbst. Irgendwo im Inneren des Ungetüms löste sich eine Sperre.
»Jetzt!« rief er über die Schulter nach hinten. »Du mußt schieben!«
Löwenzahn knurrte etwas, doch der Lärm der Nordlinge, die hinter ihnen den Stollen heraufströmten, übertönte seinen Fluch. Mit all seiner Kraft stemmte er sich gegen die Rückseite des Bohrers, und Mütterchen glaubte das Anschwellen seiner riesenhaften Muskelberge sogar durch seine dicke Fellkleidung zu erkennen.
Sie selbst stand hinter ihm, mit gezücktem Schwert, um ihm den Rücken von Angreifern freizuhalten. Unruhig, gespannt bis in die Zehenspitzen, blickte sie zurück zur letzten Biegung des spiralförmigen Stollens. Das Wasser umspülte ihre Füße bis zu den Knöcheln, das Rauschen wurde von den Felswänden zurückgeworfen. Sie war zu schwach, um Löwenzahn beim Schieben des Minenbohrers zu helfen. Irgend etwas aber wollte auch sie beitragen, und wenn es nur die Kunde vom Näherkommen der Gegner war. »Sie sind gleich hier!« rief sie über die Schulter zu Löwenzahn und Alberich. »Beeilt euch!«
Der Horthüter drehte im Inneren des Bohrers mit aller Kraft eine große Kurbel. Ähnlich wie beim Schließmechanismus des Portals wurde auch seine Anstrengung durch die Übertragung auf zahlreiche Räder und Federn vervielfacht. Die Korkenzieherspitze des Rammbocks, halb im Fels vergraben und von weißen Wasserfontänen umstrahlt, geriet in Bewegung, drehte sich, fraß sich tiefer ins Gestein. Der Wasserdruck verstärkte sich, winzige Felspartikel brachen von den Rändern der verstopften Öffnung, noch mehr Wasser ergoß sich in den Stollen.
»Da sind sie!« brüllte Mütterchen über das Getöse hinweg.
Mehr als ein Dutzend Nordlinge, gefolgt von noch mehr bewaffneten Zwergen, schob sich um die Biegung. Das Wasser am Boden spritzte unter ihren Stiefeln empor, eine Gischt wie vor dem Bug einer Galeere.
Sie waren bis auf zehn Schritte an den Minenbohrer und die Gefährten herangekommen, als die vorderen schlagartig stehenblieben. Ein wüstes Gerangel entstand, als die hinteren Reihen nachdrängten. Schließlich verharrte der ganze Trupp, unruhig, zeternd, mit wilder Drohgebärde.
Mütterchen hätte sich gerne eingeredet, daß es ihr eigener respekteinflößender Anblick war, der ihre Gegner zögern ließ. Tatsächlich aber hatten die Nordlinge und Zwerge entdeckt, daß sich der Bohrer immer tiefer in die Felsschicht grub, dem reißenden Strom entgegen, der über ihnen die Lande durchschnitt. Das Wasser im Stollen reichte Mütterchen bereits bis über die Waden, und mit jedem Herzschlag stieg es höher.
Im nächsten Augenblick würde die Entscheidung fallen. Falls die Nordlinge kühn genug waren, ihren Weg fortzusetzen und die Gefährten zu töten, mochte es ihnen gelingen, das beinahe Unausweichliche aufzuhalten.
Doch bei all ihrer Größe und furchteinflößenden Körperkraft waren sie nicht bereit, ihr eigenes Leben für das Gelingen ihrer Mission zu opfern. Einer, der Anführer, gab den Befehl zum Rückzug. Für ihn schien festzustehen, daß seine Sache verloren war.
Mütterchen frohlockte, ein herrliches, triumphierendes Gefühl. Leider ein ausgesprochen kurzes. Denn als sie sich umdrehte und den anderen zufrieden die frohe Nachricht mitteilen wollte, sah sie, was auch die Nordlinge gesehen hatten. Und sie erkannte, daß die Sache verloren war. Verloren wie sie und ihre Gefährten, wenn sie sich nicht beeilten, von hier zu verschwinden.
Vom Rammbock des Minenbohrers war nichts mehr zu sehen. Eine Explosion aus Wasserstrahlen, weiß wie glühender Stahl, verhüllte die vordere Partie des Ungetüms. Alberich kletterte geschwind wie ein Insekt aus der Holzverkleidung und rutschte den Buckel hinab zu Boden. Auch Löwenzahn hörte auf zu schieben. Er packte den langsameren Zwerg am Arm, warf sich herum, gab Mütterchen im Laufen einen Stoß und trieb sie neben sich her den Stollen hinunter. Das letzte, was Mütterchen vom Ende des Ganges sah, war ein Netz aus schwarzen Spalten, das sich mit höllischer Geschwindigkeit über die Felswände ausbreitete. Wassergeysire sprühten aus allen Richtungen.
Die drei Gefährten rannten so eilig sie konnten bergab, durch kniehohes Wasser, die reißende Strömung im Rücken. Die Stollenspirale schien sich endlos nach unten zu schrauben, und immer schneller kroch die Wasseroberfläche an ihren Körpern empor, immer kräftiger wurde der Sog.
Dann, plötzlich, sank der Wasserspiegel, und sie wußten, vor ihnen lag die Zwergenstraße. Sie stürmten durch die Öffnung in den breiten Tunnel und sahen in einiger Entfernung ein Gewimmel aus Nordlandkriegern und Zwergen. Keiner versuchte, die drei Freunde aufzuhalten, jeder rannte nur um sein eigenes Leben. Eine Handvoll Feinde war klug genug, den Weg zur Halle der Minenbohrer einzuschlagen; sie lag höher als der Tunnel, und es gab dort einen Ausgang zu den oberen Ebenen des Hohlen Berges. Der ganze Rest aber, siebzig, achtzig Krieger und Sklaven, floh die alte Zwergenstraße entlang nach Norden, in ihrer Panik nicht ahnend, daß sie damit ihr Schicksal besiegelten. Wenn die obere Felsschicht erst barst und die Wassermassen des Rheins sich durch die Spalten ergossen, würden sie den gesamten Tunnel viele hundert Schritte weit überfluten. Niemand, der sich dann noch hier unten aufhielt, würde mit dem Leben davonkommen.
Mütterchen, Alberich und Löwenzahn stürmten den Stollen zur Halle hinauf, vor sich mehrere Zwerge und Nordlinge. Hinter ihnen ertönte ein Fauchen wie von einem lebenden Wesen. Ein Donnern wie der Weltuntergang, ein Kreischen und Splittern und Bersten, als rissen die Götter selbst den Himmel entzwei. Schlagartig wurde das Fauchen zum Prasseln und das Prasseln zu einem einzigen, infernalen Getöse.