Becker gab eine eindrucksvolle Vorstellung, aber er hatte den Bogen überspannt. Prostitution war in Spanien nun mal verboten, und Señor Roldán war auf der Hut. Er war schon einmal auf einen Beamten der Guardia hereingefallen, der sich als liebeshungriger Tourist ausgegeben hatte. Möchte mit Rothaariger schlafen. Roldán wusste, das konnte ins Auge gehen. Wenn er darauf einging, würde er sich womöglich eine saftige Geldstrafe einhandeln und außerdem wieder einmal eine seiner talentiertesten Damen dem Kommissariat
für ein Gratis-Wochenende überlassen müssen.
»Sie sprechen mit Escortes Belén«, antwortete er, nun schon weitaus weniger freundlich. »Darf ich fragen, wer da spricht?«
»Äh... Siegmund Schmidt«, antwortete Becker.
»Woher haben Sie unsere Nummer?«
»Aus Branchenbuch, Guía telefónica.«
»Gewiss, Señor: Dort sind wir eingetragen. Als Begleitagentur!«.
»Ja, ich wollen Begleiterin.« Becker spürte, dass etwas schief gelaufen war.
»Señor, Escortes Belén ist ein Dienstleistungsunternehmen, bei dem Geschäftleute zum Lunch oder zum Dinner eine Begleiterin buchen können. Deswegen stehen wir ja auch im Branchenbuch. Unsere Dienstleistungen sind völlig legal. Was Sie suchen, nennt man eine Prostituierte!« Das Wort kam über Señor Roldáns Lippen, als
handle es sich um eine ekelhafte Krankheit.
»Aber mein Bruder ...«
»Señor, wenn Ihr Bruder heute im Park ein Mädchen geküsst hat, dann kann das keinesfalls eine Dame von unserer Agentur gewesen sein. Das Verhältnis unserer Damen zum Kunden ist durch absolut
verbindliche gegenseitige Vereinbarungen vertraglich geregelt!«
»Aber...«
»Sie haben garantiert unsere Nummer mit einer anderen verwechselt. Immaculata und Rocío, unsere beiden rothaarigen Damen, würden es empört ablehnen, sich gegen Bezahlung mit einem Kunden auf Intimitäten einzulassen. Das wäre Prostitution, und
Prostitution ist in Spanien verboten! Gute Nacht, Señor!« »Aber...« KLICK. Leise fluchend schmiss Becker den Hörer auf die Gabel.
Dritter Versuch.
Aber er war sicher, dass Cloucharde gesagt hatte, der Deutsche hätte geprahlt, er hätte das Mädchen für das ganze Wochenende
gebucht.
Becker trat aus der an der Kreuzung der Calle Salvado mit der Avenida Asuncion gelegenen Telefonzelle. Trotz des dichten Verkehrs hing überall der Duft der Orangenbäume in der Luft. Die Abenddämmerung brach herein – die romantischste Stunde von Sevilla. Becker dachte an Susan, aber Strathmores Aufforderung verdrängte alles andere aus seinem Kopf. Sie müssen diesen
Ringfinden!
Entmutigt ließ er sich auf eine Bank fallen, um sich seinen nächsten Zug zu überlegen.
Welchen Zug überhaupt?
KAPITEL 25
Die Besuchszeit der Clínica de Sanidad Pública war längst vorüber. In der zum Krankensaal umfunktionierten Turnhalle hatte man das Licht ausgeschaltet. Pierre Cloucharde schlief den Schlaf des
Gerechten.
Cloucharde bemerkte nicht, dass sich eine Gestalt über ihn beugte. Die Nadel einer großen Injektionsspritze blitzte in der Dunkelheit auf und senkte sich zielstrebig in die Armvene des Schlafenden. Die Spritze enthielt dreißig Kubikzentimeter zweckentfremdeten Allesreiniger von einem Putzkarren des Reinigungspersonals. Ein kräftiger Daumen drückte den Spritzenkolben nieder und jagte die
bläuliche Flüssigkeit in Clouchardes Vene.
Cloucharde erwachte, aber nur für wenige Sekunden. Er wollte vor Schmerz aufschreien, doch eine starke Hand presste sich auf seinen Mund. Ein unverrückbares Gewicht nagelte ihn auf sein Feldbett. Er fühlte eine Feuerblase in seinem Arm hochrollen. Ein unerträglicher Schmerz raste über die Achselhöhle in seine Brust und hoch in sein Gehirn, wo er wie ein Schrapnell aus Millionen Glassplittern
explodierte. Cloucharde sah einen grellen Lichtblitz ... dann nichts
mehr.
Der nächtliche Besucher, ein Mann mit Nickelbrille, löste seinen Griff. Er entzifferte den Namen auf der Bettbelegungskarte und
schlüpfte geräuschlos hinaus.
Draußen auf der Straße griff er nach einem winzigen Gerät an
seinem Gürtel, ein rechteckiges flaches Kästchen vom Format einer Scheckkarte. Es war der Prototyp der neuen Monocle Computergeneration. Das ursprünglich von der US Navy für elektrische Messzwecke in den beengten Raumverhältnissen von U-Booten entwickelte Gerät hatte sich zum Miniaturcomputer gemausert und enthielt neben den neuesten Schikanen der Mikrotechnologie auch ein Mobilfunk-Modem. Als Monitor diente ein in das linke Glas
einer Brille integrierter Flüssigkristall-Bildschirm. Der Monocle stellte eine völlig neue Generation der PC-Technik dar, die es dem Anwender erlaubte, Daten und Umgebung simultan zu beobachten.
Der eigentliche Clou des Monocle war jedoch nicht sein MiniaturDisplay, sondern das Daten-Eingabesystem. Der Benutzer gab die Befehle mittels winziger elektrischer Kontakte an den Fingerspitzen, die er nach bestimmten Abfolgen betätigte. Das Ergebnis war eine Art Kurzschrift wie bei den Schreibmaschinen der amerikanischen Gerichtsstenographen. Der Computer lieferte die Rückübersetzung der
Kürzel in Langschrift.
Der Attentäter drückte einen Mikroschalter. In seiner Brille leuchtete der Bildschirm auf. Er ließ die Arme unverdächtig seitlich am Körper hängen. Seine Fingerspitzen begannen in schneller Folge gegeneinander zu trommeln. Vor seinem linken Auge leuchtete eine
Meldung auf:
ZIELPERSON: P. CLOUCHARDE – ELIMINIERT
Er lächelte. Die Vollzugsmeldung der Mordaufträge war Bestandteil seines Vertrags. Aber die Meldung mit dem Namen des Opfers zu
verbinden, dachte der Mann mit der Nickelbrille – das war Eleganz.
Ein weiteres Trommeln seiner Fingerspitzen aktivierte das Mobilfunk-Modem:
BOTSCHAFT ABGESCHICKT
KAPITEL 26
Becker saß ratlos auf der Bank gegenüber der Klinik. Wie sollte es jetzt weitergehen? Seine Anrufe bei den Begleitagenturen hatten zu keinem Ergebnis geführt. Den Commander konnte er nicht anrufen. Strathmore hatte ihn wegen der Abhörgefährdung öffentlicher Telefone gebeten, sich erst wieder zu melden, wenn er den Ring hatte. Becker überlegte, ob er zur hiesigen Polizei gehen und sich nach einer rothaarigen Nutte erkundigen sollte, aber dem standen Strathmores strikte Anweisungen entgegen. Bleiben Sie im Verborgenen! Niemand
darf wissen, dass es diesen Ring gibt!
Becker fragte sich, ob er das Vergnügungsviertel Triana nach der geheimnisvollen Frau abklappern oder sich lieber quer durch die
Lokale auf die Suche nach dem deutschen Touristen machen sollte.
Alles nur Zeitvergeudung...
Strathmores Worte ließen ihn nicht los. Es ist eine Frage der nationalen Sicherheit. Sie müssen diesen Ringfinden!
Eine leise Stimme im Hinterkopf sagte ihm, dass er etwas übersehen hatte – etwas Wichtiges -, aber selbst um den Preis seines Lebens hätte er nicht sagen können, was es war. Du bist ein Pauker und kein Geheimagent, verdammt noch mal! Er fragte sich allmählich,
warum Strathmore nicht einen Profi losgeschickt hatte.
Becker stand auf und spazierte ziellos die Calle Delicias hinunter. Welche Möglichkeiten gab es noch? Das Pflaster des Trottoirs verschwamm vor seinen Augen. Die Dunkelheit brach mit Macht herein.
Dewdrop.
Irgendetwas an diesem blödsinnigen Namen ließ ihn nicht los.
Dewdrop. Die ölige Stimme des Señor Roldán von Escortes Belén lief als Dauerschleife in seinem Kopf. Wir beschäftigen nur zwei
rothaarige Damen ... Immaculata und Rocío... Rocío... Rocío...«
Becker schlug sich mit der Hand an die Stirn. Plötzlich hatte er begriffen. Wie konnte ihm das nur entgangen sein?