Sevilla stand er als billiger Ersatz einer Klimaanlage weit offen.
Becker ignorierte das Brennen in den Beinmuskeln. Seine Augen fixierten den Einstieg. Neben ihm rollten schulterhohe Reifen. Er versuchte aufzuspringen, verfehlte aber die Haltestange und wäre fast gestürzt. Er mobilisierte seine letzten Reserven. Unter dem Bus hörte
er die Kupplung arbeiten.
Er schaltet! Du schaffst es nicht!
Aber bis die Zahnräder des höheren Gangs endgültig ineinander griffen, verlor der Bus minial an Fahrt. Becker sprang. Seine Finger krallten sich um die Haltestange. Der Bus zog an. Becker wurde nach oben katapultiert. Er dachte, der Arm würde ihm aus dem
Schultergelenk gerissen.
Becker lag völlig erschöpft im Einstieg. Das Pflaster raste nur wenige Handbreit unter ihm vorbei. Er war wieder vollkommen nüchtern. Schulter und Beine taten ihm weh. Halt suchend richtete er sich auf und zog sich schwankend in den abgedunkelten Bus. Wenige Sitzreihen vor ihm ragten aus den Silhouetten der Fahrgäste drei unverkennbare Spitztüten aus Haar in die Luft. Rot, weiß und blau. Du
hast es geschafft!
In Beckers Kopf tanzten allerlei Bilder — der Ring, der wartende Learjet 60 und zu guter Letzt Susan.
Becker war auf Höhe der Sitzreihe des Mädchens. Er überlegte, wie er es ansprechen sollte. Der Lichtschein einer Straßenlaterne
huschte über das Gesicht der Punkerin.
Becker erstarrte. Die Schminke war über einen kräftigen Stoppelbart geschmiert. Es war kein Mädchen, sondern ein junger Bursche mit einer schwarzen Lederjacke, die er auf dem nackten Oberkörper trug. Ein silberner Knopf war durch seine Oberlippe
gepierct.
»Eh, Alter, was liegt an?«, stieß der Punker heiser hervor. Er hatte einen New Yorker Akzent.
Wie ein Stürzender im freien Fall schaute Becker in die Gesichter der Fahrgäste, die ihn ihrerseits anstarrten. Es waren ausschließlich Punks. Mindestens die Hälfte hatte rot-weißblaue Haare. Er erlebte die
Szene wie in Zeitlupe.
»jSiéntate!«, brüllte der Fahrer.
Becker war zu benommen, um darauf zu achten.
»jSiéntate!«, brüllte der Fahrer noch einmal. »Hinsetzen!«
Becker blickte geistesabwesend in das aufgebrachte Gesicht im Rückspiegel, aber zu spät.
Der Busfahrer trat kräftig auf die Bremse. Vergeblich suchte Becker an einer Sitzlehne Halt. Er verlor das Gleichgewicht. Nach
einem unfreiwilligen Purzelbaum knallte er hart auf den rauen Boden.
An der Avenida el Cid löste sich eine Gestalt aus dem Halbdunkel. Der Mann rückte seine Nickelbrille zurecht und schaute dem davonfahrenden Bus hinterher. David Becker war entwischt, aber nur vorübergehend. Unter allen Bussen von Sevilla war er ausgerechnet in
die berüchtigte Linie 27 geraten.
Die Nummer 27 fuhr ohne Zwischenhalt durch bis zur Endstation.
KAPITEL 46
Phil Charturkian knallte den Hörer hin. Jabbas Anschluss war besetzt. Jabba hielt nichts von der Anklopf-Funktion. Für ihn war das nur eine weitere Beutelschneiderei der Telefongesellschaft AT&T, weil sie dann jeden Anruf durchstellen konnte. Der schlichte Satz: »Mein Anschluss ist leider besetzt, ich rufe Sie gleich zurück«, spülte jährlich Millionen in die Kassen der Telefongesellschaften. Jabbas Weigerung, die Anklopf-Funktion in Anspruch zu nehmen, war sein stiller Protest gegen die NSA-Vorschrift, im Notfall immer und
überall über Handy erreichbar zu sein.
Charturkian drehte sich um und schaute in die leere Crypto-Kuppel hinaus. Das Generatorbrummen schien mit jeder Minute lauter von unten emporzudringen. Er spürte, dass ihm allmählich die Zeit davonlief. Er wusste aber auch, dass er eigentlich zu verschwinden hatte, doch das Brummen aus dem Untergrund mutierte mehr und mehr zum Mantra eines Sys-Sec-Technikers: Erst handeln, dann
erklären.
In der Welt der Computersicherheit entschieden oft Minuten darüber, ob ein System gerettet werden konnte oder den Bach hinunterging. Nur selten reichte die Zeit, eine rettende Maßnahme zu erklären, bevor man sie ergriff. Ein Sys-Sec-Techniker wurde für
seine Sachkenntnis bezahlt – und für seinen Instinkt.
Erst handeln, dann erklären. Charturkian wusste, was er zu tun hatte. Wenn der Staub sich gelegt hatte, würde er entweder ein Held
der NSA oder arbeitslos sein.
Das große Dechiffrierungsungeheuer hatte einen Virus, daran bestand für ihn kein Zeifel. Es gab nur eine einzige verantwortungsbewusste Maßnahme: abschalten. Dafür gab es zwei Möglichkeiten. Einmal vom Terminal im Büro des Commanders aus, was völlig ausgeschlossen war. Und dann war da noch der Notschalter auf einer der unteren Etagen des Wartungssilos unter der Crypto-
Kuppel.
Charturkian schluckte. Er hasste diesen Silo. Er war nur ein einziges Mal unten gewesen, während seiner Ausbildung. Es war dort wie in einer Welt der Aliens, mit dem Gewirr der Gitterlaufstege und Kühlmittelröhren und dem Schwindel erregenden Blick vierzig Meter
hinunter zu dem dröhnenden Stromaggregat.
Es war der letzte Ort, den er freiwillig aufgesucht hätte, und Strathmore war der Letzte, dem er zu begegnen wünschte – aber Pflicht war nun einmal Pflicht. Eines Tages wird man dir dafür
dankbar sein, dachte er, ohne so recht daran zu glauben.
Er holte tief Luft und öffnete den Spind seines Vorgesetzten. In einem Fach mit Computerbauteilen stand hinter einem LAN-Tester und allerlei Messgeräten für Netzwerke ein Kaffeebecher mit dem Logo der Stanford Universität. Charturkian griff hinein und zog einen
Sicherheitsschlüssel heraus.
Es ist schon erstaunlich, was Vorgesetzte alles nicht wissen, dachte er.
KAPITEL 47
Ein Milliarden-Dollar-Code?«, spottete Midge, während sie mit Brinkerhoff den Flur zurückkging. »Du hast schon bessere Witze
gemacht.«
»Ich schwör's dir!«, beharrte er.
Sie sah ihn von der Seite her an. »Ich warne dich! Wenn das eine Masche ist, mit der du mich um den Finger wickeln willst, dann ... !«
»Midge, das würde ich mir niemals ...«
»Geschenkt, Chad. Erinnere mich nicht daran.«
Eine halbe Minute später saß Midge an Brinkerhoffs Schreibtisch und studierte den Crypto-Bericht.
»Hier, dieser DKD-Wert!«, sagte er über sie gebeugt und deutete auf die fragliche Zahl. »Eine Milliarde Dollar.«
»Tatsächlich!«, kicherte sie. »Ein bisschen hoch ist er schon.«
»Ja«, stöhnte Brinkerhoff. »Aber nur ein kleines bisschen.«
»Sieht aus wie ein Bruch durch null.«
»Ein was?«
»Ein Bruch durch null«, sagte sie und ging die übrigen Zahlen durch. »Die DKD werden als Quotient ermittelt: Gesamtsumme der
Aufwendungen geteilt durch die Gesamtzahl der Dechiffrierungen.«
»Klar.« Brinkerhoff nickte abwesend und bemühte sich, Midge nicht allzu unverblümt in den Ausschnitt zu linsen.
»Wenn der Nenner null ist«, erklärte Midge, »nimmt der Quotient den Wert unendlich an. Ein Computer kann mit unendlich nichts anfangen, also schreibt er lauter Neuner.« Sie deutete auf eine andere Zahlenkolonne. »Sieh mal, hier.«
»Ja.« Brinkerhoffs Augen fanden zurück zum Papier.
»Das ist die Produktionsleistung von heute. Sieh dir mal die Zahl der Dechiffrierungen an.«
Brinkerhoff folgte pflichteifrig ihrem Zeigefinger, der an der Kolonne nach unten glitt.
ZAHL DER DECHIFFRIERUNGEN = 0
Midge tippte mit dem Finger auf die Null. »Genau, wie ich vermutet habe. Ein Bruch durch null!«
Brinkerhoff zog die Brauen hoch. »Dann ist also alles in bester Ordnung?«
Sie zuckte die Achseln. »Das heißt lediglich, dass wir heute keinen Code geknackt haben. Der TRANSLTR macht wohl Pause.«