Midge Milken lehnte auf der anderen Seite des Empfangsbereichs lässig im Rahmen der Doppeltür zum Büro des Direktors und streckte
die Hand aus. »Den Schlüssel, Chad.«
Puterrot wandte sich Brinkerhoff wieder den Monitoren zu. Er versuchte, die Bilder an sich abgleiten zu lassen, aber vergeblich. Auf allen Bildschirmen war zu sehen, wie er vergnügt an Carmen Huertas
honigbekleckerten kleinen Brüsten nuckelte.
KAPITEL 66
David Becker durchquerte die Empfangshalle. Vor der Tür mit dem Schild CABALLEROS standen ein orangefarbener Pylon und ein Putzwagen mit Putzmitteln und Mopps. Er betrachtete eine Tür
daneben mit der Aufschrift SEÑORAS , bevor er hinüberging und
laut anklopfte.
»¿Hallo?«, rief er und öffnete die Tür ein paar Zentimeter, »¿Con permiso?«
Als keine Antwort kam, trat er ein.
Die Toilette bot das typische Bild einer spanischen Einrichtung dieser Art – absolut quadratisch, eine einzige nackte Birne an der Decke, und wie üblich ein Toilettenhäuschen und ein Urinal. Ob das Urinal in einer Damentoilette jemals Verwendung fand, stand nicht zur Debatte. Seine Installation ersparte dem Bauunternehmer die
Kosten für den Einbau eines zweiten Häuschens.
Becker betrachtete schaudernd das schmutzstarrende Ambiente. Im Waschbecken stand eine dunkelbraune Brühe, der Abfluss war verstopft. Überall lagen schmutzige Papierhandtücher herum. Der antiquierte Föhn in der Wandhalterung war mit grünlichen Flecken
übersät.
Becker trat vor den Spiegel und seufzte. Die Augen, die ihn normalerweise wach und klar aus dem Spiegel entgegenblickten, hatten ihren Glanz verloren. Wie lange bist du eigentlich schon auf den Beinen?, fragte er sich, kam aber zu keinem genauen Ergebnis. Aus purer Gewohnheit zog er den Windsorknoten seiner Krawatte
fest.
Er stellte sich vor das Urinal. Ob Susan inzwischen zu Hause war? Wo mochte sie hingegangen sein? Auf eigene Faust nach Stone
Manor?
»Hey!«, rief hinter ihm eine zornige Frauenstimme.
Becker führ zusammen. »Ich habe nur...«, stotterte er und zog schnell den Reißverschluss seiner Hose wieder zu. »Es tut mir Leid,
ich...«
Er wandte sich um. Ein adrett gekleidetes junges Mädchen war eingetreten. Mit seiner klassisch geschnittenen Karohose und einer weißen ärmellosen Bluse sah es aus wie den Seiten eines Modemagazins entsprungen. Es schleppte eine rote Nylonreisetasche
mit sich. Das blonde Haar war makellos in Fasson geföhnt.
»Entschuldigen Sie.« Becker versuchte unauffällig den Gürtel zuzumachen. »Die Herrentoilette war... na ja... ich bin schon fort.«
»Verdammter Wichser!«
Becker prallte zurück. Die ordinäre Ausdrucksweise passte ganz und gar nicht zum Erscheinungsbild des Mädchens. Es war, als flösse Jauche aus einer Kristallkaraffe. Je länger Becker das Mädchen ansah, desto mehr bröckelte sein erster Eindruck. Ihre Augen waren verquollen und blutunterlaufen, ihr linker Unterarm geschwollen.
Unter der stark geröteten Haut zeichneten sich bläuliche Flecken ab.
Mein Gott, dachte Becker, Drogen in die Armvene! Wer hätte das gedacht?
»Raus jetzt!«, schrie das Mädchen.
Becker vergaß den Ring, die NSA, das ganze Theater. Er machte sich Sorgen um das junge Ding. Die Eltern hatten es vermutlich als Austauschschülerin mit einer Kreditkarte herübergeschickt – und das
Ende vom Lied war ein nächtlicher Schuss in einer Toilette.
»Sind Sie okay?«, fragte er, schon auf dem Weg zur Tür.
»Mir geht es prima.« Ihre Stimme war heiser. »Hauen Sie bloß ab!«
Mit einem Blick auf ihren Unterarm wandte Becker sich endgültig zum Gehen. David, da ist nichts mehr zu machen. Lass die Finger
davon.
»Raus!«
Becker nickte. Im Hinausgehen lächelte er dem Mädchen zu. »Passen Sie gut auf sich auf!«
KAPITEL 67
» Susan!«, keuchte Hale. Sein Gesicht war dicht vor dem ihren.
Die Beine angewinkelt, hockte er mit seinem vollen Gewicht auf Susans Leib. Durch den dünnen Stoff von Susans Rock bohrte sich sein Steißbein schmerzhaft in ihre Schamgegend. Aus seiner Nase troff Blut auf sie herab. Seine Hände waren an ihrer Brust. Susan
spürte den Mageninhalt hochkommen.
Sie war gefühllos geworden. Es dauerte einige Zeit, bis sie merkte, dass Hale ihre Bluse zuknöpfte und ihren Rock wieder in Form
brachte.
»Susan«, keuchte er atemlos, »du musst mich hier herausbringen!«
Sie war wie betäubt. Nichts passte mehr zusammen.
»Susan, du musst mir helfen! Strathmore hat Charturkian umgebracht! Ich hab's gesehen!«
Susan brauchte einen Moment, bis sie den Satz verdaut hatte. Strathmore soll Charturkian umgebracht haben? Hale wusste
offenbar nicht, dass sie ihn dort unten gesehen hatte.
»Strathmore weiß, dass ich ihn beobachtet habe«, stieß Hale hervor. »Er wird auch mich umbringen!«
Susan wagte vor lauter Angst kaum zu atmen, sonst hätte sie Hale laut ins Gesicht gelacht. Sie erkannte die Taktik des ausgebildeten Marinesoldaten. Teile und herrsche – Lügen erfinden, die Leute
gegeneinander ausspielen.
»Ich erzähle keine Märchen, es stimmt!«, schrie er. »Wir müssen Hilfe herbeirufen. Ich sage dir, wir schweben beide in höchster Gefahr!«
Susan glaubte ihm kein Wort.
Hales Beine verkrampften sich. Beim Verlagern des Gewichts erhob er sich ein klein wenig in die Hocke. Er wollte etwas sagen,
aber dazu kam er nicht.
Als sich Hales schwerer Körper hob, strömte schlagartig wieder das Blut in Susans Beine. Bevor sie begriffen hatte, was geschah, schnellte ihr linkes Knie reflexhaft hoch und grub sich in Hales
Weichteile.
Hale fiel jaulend in sich zusammen. Sein Geschlecht in den Händen bergend, kippte er zur Seite. Susan schlängelte sich unter ihm hervor und machte ein paar taumelnde Schritte zum Ausgang, doch sie wusste nur zu gut, dass ihre Kräfte zum Offnen der Tür nicht
ausreichten.
Einer Eingebung folgend, blieb sie an der Schmalseite des langen Besprechungstischs aus Ahorn stehen. Sie stemmte die Füße in den Teppichboden und schob den Tisch mit aller Kraft wie einen Rammbock zur Glaswand. Zum Glück hatte das Monstrum Rollen und ließ sich hervorragend schieben. Auf halbem Weg zur
Spiegelwand war Susan schon in vollem Lauf.
Anderthalb Meter vor dem Aufprall ließ sie den Tisch fahren, warf sich zur Seite und bedeckte die Augen. Es gab ein wüstes Krachen, und die Einweg-Spiegelwand zerbarst in einem Scherbenregen. Zum ersten Mal seit dem Bau der Anlage drangen die Geräusche der
Kuppel herein.
Susan hob den Kopf. Durch das gezackte Loch konnte sie gerade
noch den Tisch in weitem Schwung über den Kachelboden gleiten und in der Dunkelheit verschwinden sehen.
Sie fuhr in ihre herumliegenden Schuhe. Mit einem letzten Blick auf Greg Hale, der sich immer noch vor Schmerzen wand, rannte sie
durch ein Meer von Scherben in die Kuppel hinaus.
KAPITEL 6 8
» Na, das war doch gar nicht so schwer!«, sagte Midge und feixte, während sie von Brinkerhoff den Schlüssel für Leland Fontaines Büro
entgegennahm.
Brinkerhoff bot den Anblick eines geschlagenen Mannes.
»Ich werde das Band vor dem Nachhausegehen löschen«, stellte Midge in Aussicht, »es sei denn, das Ehepaar Brinkerhoff legt Wert
darauf, es seiner Privatsammlung einzuverleiben.«
»Hol dir bloß den verdammten Ausdruck«, zischte Brinkerhoff, »und dann verschwinde!«
»Sí, señor«, schnarrte Midge mit puertoricanischem Akzent. Sie blinzelte Brinkerhoff zu und schloss die Doppeltür auf.
Leland Fontaines Büro glich in nichts dem Rest der Chefetage. Keine Bilder an der Wand, keine Polsterfauteuils, keine Ficuspflanzen im Topf, keine antike Uhr. Alles war bis ins Letzte auf Zweckmäßigkeit angelegt. Der Schreibtisch mit Glasplatte und der schwarze Ledersessel waren unmittelbar vor dem Panoramafenster aufgestellt. In der Ecke standen drei Aktenschränke, daneben ein kleiner Tisch mit einer französischen Kolbenfilter-Kaffeekanne. Der Mond hing hoch am Himmel über Fort Meade. Das durch das Fenster hereinfallende blasse Licht ließ die Kargheit des Chefbüros