Выбрать главу

Glockengeläut schwoll an.

Beckers Seite brannte, aber die Blutung hatte aufgehört. Er lief weiter. Irgendwo hinter ihm war ein Mann mit einer Pistole und

versuchte ihn einzuholen. Er zog den Kopf ein.

Becker tauchte in den Gruppen der Kirchgänger unter und wieder auf. Er spürte, dass es nicht mehr weit sein konnte. Die Menge war angeschwollen, die Gasse noch geräumiger geworden. Das war kein Nebenfluss mehr, das war der Hauptstrorn. Die Gasse machte einen Bogen. Weit vorne an einem Platz sah Becker die Kathedrale und den Giraldaturm aufragen. Der Klang der Glocken fing sich mit ohrenbetäubendem Gedröhn zwischen den hohen Mauern der Häuser,

die den Platz umsäumten.

Die Massen vereinigten sich zu einem schwarzen, den gähnenden Portalen der Kathedrale entgegenflutenden Strom. Becker versuchte sich seitwärts in die Calle Mateus Gago zu schlagen, aber die Menge

keilte ihn ein. Schulter an Schulter, einander fast auf die Füße tretend, wurde er von der schiebenden Menge mitgeschleppt. Die Spanier hatten immer schon einen ganz eigenen Begriff von Gedränge. Becker fand sich zwischen zwei fülligen Matronen eingezwängt, die sich mit geschlossenen Augen vom Menschenstrom tragen ließen, während die Perlen des Rosenkranzes in inbrünstigem Gebet durch ihre Finger glitten.

Der gewaltige Steinbau kam näher. Becker versuchte erneut, nach links auszubrechen, aber die fromme Erwartung, die blind gemurmelten Gebete hatten die Macht des Menschenstroms mit

seinem Geschiebe und Gedränge noch verstärkt. Becker drehte sich um. Sein Versuch, sich gegen den Strom der Massen der frommen Gläubigen zurückzukämpfen, war so aussichtslos wie einen mächtigen Fluss stromauf schwimmen zu wollen. Er wandte sich wieder nach vorne. Die Portale der Kathedrale ragten vor ihm auf wie der Eingang zu einer düsteren Geisterbahn, auf der er gar nicht

mitfahren wollte.

David Becker war im Begriff, zur Messe zu gehen.

KAPITEL 90

In der Crypto-Kuppel plärrten die Alarmhörner. Strathmore wusste nicht mehr, wie lange Susan schon fort war. Er saß allein in der Düsternis, der TRANSLTR dröhnte zu ihm herauf. Du bist ein

Überlebenskünstler ... ein Uberlebenskünstler ...

Ja, dachte er, das bist du – aber was ist das nackte Überleben schon wert? Lieber den Tod als ein ehrloses Leben in Schmach und

Schande.

Und Schmach und Schande war, was ihn erwartete. Er hatte dem Direktor Informationen vorenthalten. Er hatte den sichersten Computer der Nation mit einem Virus infiziert. Man würde ihn mit Schimpf und Schande davonjagen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Patriotische Absichten hin oder her, nichts hatte geklappt wie geplant. Es hatte Betrügereien gegeben und Tote. Es würde zu Anschuldigungen kommen, zu einem Gerichtsverfahren, zum öffentlichen Aufschrei der Empörung. Nachdem er seinem Land über so viele Jahre mit Anstand und Würde gedient hatte, konnte er ein

solches Ende nicht zulassen.

Ein Uberlebenskünstler sollst du sein ?, sinnierte er.

Ein Lügner bist du!, gab er sich selbst die Antwort.

Es stimmte. Er war ein Lügner. Er war nicht aufrichtig gewesen, zu einer ganzen Reihe von Menschen. Susan Fletcher gehörte ebenfalls zu ihnen. Es gab so vieles, was er ihr vorenthalten hatte, Dinge, für

die er sich jetzt entsetzlich schämte. Seit Jahren schon war sie sein Ideal, sein Fleisch gewordenes Wunschbild. Nachts träumte er von ihr, schrie nach ihr im Schlaf. Er war machtlos dagegen. Sie war die schönste und klügste Frau, die er sich vorstellen konnte. Seine Ehefrau hatte sich nach Kräften bemüht, geduldig zu sein, aber nachdem sie Susan persönlich begegnet war, hatte sie alle Hoffnung fahren lassen. Beverly Strathmore machte ihrem Gatten seine Gefühle

nicht zum Vorwurf. Sie hatte versucht, den Schmerz zu ertragen, so lange es eben ging, aber vor nicht allzu langer Zeit war es schließlich zu viel für sie geworden. Sie hatte ihrem Mann gesagt, dass ihre Ehe gescheitert sei. Sie könne nicht den Rest ihres Lebens im Schatten einer anderen Frau verbringen.

Das Getöse des Alarms holte Strathmore allmählich aus seiner Lethargie. Sein analytisch geschultes Gehirn kam wieder in Gang und machte sich auf die Suche nach einem Ausweg. Zögernd musste sein Verstand absegnen, was sein Gefühl schon längst gefordert hatte. Es gab nur einen einzigen gangbaren Ausweg, nur eine einzige

realistische Lösung.

Strathmore senkte den Blick auf die Tastatur und begann zu tippen. Er machte sich nicht die Mühe, den Monitor wieder zurückzudrehen, damit er sehen konnte, was seine Finger mit Bedacht und

Entschlossenheit schrieben.

Meine lieben Freunde, ich nehme mir heute das Leben ...

Niemand würde jemals argwöhnisch werden. Es würde weder Fragen noch Anschuldigungen geben. Die Welt sollte haarklein

erfahren, was passiert war. Viele hatten ihr Leben lassen müssen. Ein Leben musste allerdings noch geopfert werden.

KAPITEL 91

In der Kathedrale herrschte immer Nacht. Die dicken steinernen Mauern schluckten den Lärm der Außenwelt und verwandelten die Hitze des Tages in eine feuchte Kühle. So zahlreich die Leuchter auch sein mochten, sie machten die Dunkelheit bestenfalls zum Zwielicht. Überall hingen Schatten. Nur ganz hoch oben filterten Glasmalereien die Hässlichkeit der Außenwelt zu matten Strahlenbündeln aus Rot

und Blau.

Die Kathedrale von Sevilla, ein riesiges überkuppeltes Gebäude, ist die zweitgrößte Kathedrale Europas. Sie wurde im fünfzehnten Jahrhundert an Stelle der ehemaligen Moschee errichtet. Das damalige Minarett, la Giralda, wird heute als Glockenturm benutzt. Die Kathedrale ist über einhundertzehn Meter lang, der Hauptaltar befindet sich knapp jenseits der Gebäudemitte in einer eigenen zentralen Kapelle, der Capilla Major. Holzbänke füllen den riesigen

Raum zwischen Eingang und Hauptaltar.

Becker fand sich auf halbem Weg zum Altar in der Mitte einer langen Bank eingekeilt. Über seinem Kopt schwang in Schwindel erregender Höhe ein silbernes Rauchfass von der Größe eines Kühlschranks an einem ausgefransten Seil unter Hinterlassung von Weihrauchschwaden in weiten Bögen hin und her. Das unverminderte Glockengeläut der Giralda sandte rumpelnde Schockwellen durch das Gemäuer. Beckers Blick kehrte aus der Höhe zurück und blieb am vergoldeten Altaraufsatz hängen. Er hatte jede Menge Grund zur

Dankbarkeit. Er atmete noch. Er lebte noch. Es war ein Wunder.

Während der Priester das Eröffnungsgebet sprach, untersuchte Becker seine Seite. Auf seinem Hemd prangte ein roter Fleck, aber die Blutung hatte aufgehört. Die Wunde war nicht besonders groß, ein Streifschuss, kein Durchschuss. Becker stopfte das Hemd wieder in die Hose. Er verdrehte den Hals nach hinten. Im Flintergrund fielen die über sechseinhalb Meter hohen vergoldeten Türflügel knarrend ins Schloss. Wenn ihm sein Verfolger bis hierher gefolgt war, saß er jetzt in der Falle. Von den vielen Portalen und Türen der Kathedrale wurde

nur ein einziger Zugang benutzt, wodurch sichergestellt war, dass jeder Tourist, der die Kathedrale besuchte, auch Eintritt bezahlt hatte.

Becker duckte sich in seine Bank. Er war der Einzige, der nicht schwarz gekleidet war. Irgendwo setzte frommer Singsang ein.

Im hinteren Bereich der Kathedrale bewegte sich eine Gestalt langsam den Seitengang empor. Der Mann, der sich im Dunkeln hielt, war gerade noch hereingeschlüpft, bevor das Portal zugeschlagen war. Er lächelte selbstgefällig. Die Jagd wurde allmählich spannend. Becker ist hier... du spürst es. Systematisch bewegte er sich Bankreihe um Bankreihe voran. In langen lässigen Schwüngen pendelte hoch oben das Rauchfass hin und her. Ein schöner Ort zum Sterben, dachte