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Er blickte den Vögeln nach und spürte, wie das für sie sein mußte.

Weg hier, woanders hin, ins Weite.

«Verdammte Schmarotzer«, hatte Dmitris Schwester geschimpft — Raben, Adler, Kojoten, Füchse, immer waren sie sofort da gewesen, wenn wir einen Elch gerissen hatten, der uns für mehrere Mahlzeiten gereicht hätte. Sie zeigten sich schon, wenn wir nur einen fremden, einsamen, vielleicht kranken Wolf töten mußten, der in unser Gebiet eingedrungen war. So hielten wir es damals, wie ist es heute? Was fehlt mir, uns, im Löwenland? Sertsa.

Nach zwanzig Reisewochen erreichte er an der Grenze zweier ausgelöschter Menschenstaaten das Teppermeer, die grüne Welt, wo die Genetiker der frühen Befreiung die Folgen der Erderwärmung und der rodungsbedingten Sauerstoffverknappung durchs Anlegen einer riesigen Graslandschaft in die Schranken verwiesen hatten. Unzählbare Quadratkilometer nach allen Richtungen weit erstreckten sich da zahllose, windgepeitschte Tsunamis aus Gras, tausend sonnenverwöhnte Karibiken aus Gras, hundert sich kräuselnde Ozeane aus Gras, und jeder Kräusel war ein Blitzen von Scharlach oder Ambra, Smaragd oder Türkis, vielfarbig wie Regenbögen. Die Farben zitterten über den Prärien in Streifen und Flecken, die Gräser — manche hoch, manche niedrig, manche von kleinen Federchen besetzt, manche glatt — schufen sich im Wachsen ihre eigene Geographie.

Dies war die wahrgewordene Phantasie einer toten Menschendichterin, von der man nur noch den Namen wußte, den sie dem Ort geschenkt hatte.

Es gab zu ihren Ehren Grashügel, wo die großen Wimmelbüsche in Massen sich türmten, dreißig Wölfe hoch; Grastäler, in denen der Belag wie Moos lebte, weich unter den Pfoten Dmitris; und enge Durchgänge unter breitblättrigen Baldachinen.

Mein König, dachte der Wolf, als er am Rand der grünen Welt auf Brandspuren stieß und sich die Witterungen der Befreiung und der noch ungelebten Zeiten kreuzten.

Kann ich dir nützlich sein? Finde ich mich, in deinem Dienst?

Ich und meine kleinen Gründe, vom Rudel wegzulaufen, wo man mir als Welpe das Fell geleckt hat und wo ich mehr Weibchen in einem Jahr geliebt habe als inzwischen in zweieinhalb Leben.

Vier Wochen war ich alt, da durfte ich die Höhle verlassen und staunte, als ich die Regeln der Verwandten kennenlernte, denn die handelten alle davon, daß das Verlassen der Höhle letztlich nichts bedeutete — die Welt des Stamms und seiner Politik war bloß eine größere Höhle, das Dach der Himmel, die Wärme spendete unsere gegenseitige Treue, die Dunkelheit überall war eine Tradition, die man nicht in Frage stellen durfte.

Familie, Bluturenge, ich wollte raus — und bin ich geworden, was ich werden wollte, sein Sohn?

«Bei ihm bist du noch einmal auf die Welt gekommen«, hatte seine Schwester ihm ausrichten lassen, ein bißchen spöttisch,»du zweimal Geborener, Digonos, Digonos

Meine Erziehung, so sah der Löwe das, als er mich aufnahm, war von da an seine Schuldigkeit; er mußte wohl oft damit kämpfen, mich anzuerkennen, auch vor seiner Tochter, die ich nie gesehen habe.

So oft, daß er jetzt immerhin dagegen abgehärtet ist, daß ich meinem eigenen Kopf folge.

Die Atlantiker, die Schwärme im Osten, die um Landers streichenden Wolfsrudel können diese seltsame Adoption nicht ungeschehen machen, da der Erfolg davon so anmutig ist: ein echter Diplomat, der erste der nach rund fünfhundert Jahren immer noch jungen Welt der Gente.

Nachts eilen, tags rasten; das ging so, bis er zur Küste kam.

Dort fand er einen Schüttwall aus Menschenknochen. Er kletterte hinauf, bis ihn die Pfoten schmerzten, und blickte, oben angekommen, auf die ganz grüne See.

Dmitri schloß die Augen. Das Rot, das er unter seinen Lidern schaute, Warnung aus ferner phylogenetischer Vergangenheit, erinnerte ihn ans freiwillig vergossene Blut auf den Stufen des Tempels in Kapseits. Vorsichtig stieg er auf derselben Seite, die er erklommen hatte, den Wall wieder hinunter. Splittrig knirschte das Weiße unter seinem besonnenen Tritt. Einige Leiber waren noch in die schäbigen Fetzen verlorenen Lebens gekleidet, in Erinnerungslumpen aus Sachen wie: Kuscheln im Freien während schwüler Juninächte, grünes Gebolze auf schmutzigen Fußballplätzen, Arbeiteraufstände russischer Bergwerksstädte, mittelgute Popmusik, Bindungen an enge Freunde. Informationen über Menschenleidenschaften, an denen Dmitri seit alten Studientagen interessiert war, ließen sich aus den gefrorenen Gesichtern, spektralen Ektoschlieren nicht gewinnen.

Seeschwalben zeigten dem Wolf, wo entlang es nach Süden ging.

Er freute sich, weil er wußte: Die sind mindestens so vertrauenswürdig wie sonst die Raben, wollen aber, anders als diese, nicht bezahlt werden: neue Freunde.

Er hätte auch ohne sie wissen können, wohin er mußte, wenn er bereit gewesen wäre, sich die Nahrungssupplemente verabreichen zu lassen, die ihn Vögeln gleichgemacht hätten, was den Orientierungssinn anging. Magnetische Teilchen aus Eisenmineralspuren in den Schnäbeln; Philomenas ewige Vorträge über mechanosensitive Ionenkanäle, empfänglich für Signale, die in Nervenzeichen umgewandelt wurden, die wiederum das Flugverhalten aller gefiederten Gente…»Ach Affengepinsel«, spuckte der Wolf aus. Er wollte das alles gar nicht haben, gar nicht wissen: Instinkte konnte man jetzt kaufen, oder der Souverän verlieh sie einem, aber:»Vielen Dank, kein Interesse«, flüsterte Dmitri Stepanowitsch. Er vertraute den Vögeln und wollte sich ansonsten lieber ein paar Kapazitäten freihalten, für später, auf ein anderes Ich hin.

Der König, dachte der Wolf: Ich liebe ihn und das, was er für uns getan hat. Ich liebe es, für ihn unterwegs zu sein, ich freue mich, daß man einer so sanften und großen Gewalt helfen kann, als einfacher Wolf, ihm und der Sonne heiligem Strahlenkreis, und Dame Liviendas Mysterien, und der Nacht, und allen Kräften der Planetenbahn, durch die wir dem Leben und dem Tod verfallen…

Aber etwas fehlte dennoch, wußte der Diplomat: Sertsa.

Im Lauf der Wochen wurde Dmitri ein gewissenhafter Streuner: Wenn ein Weg aussah, als wären ihn schon viele gegangen, mied der Wolf ihn.

Morgens gähnte er, daß es ihm den Kiefer ausrenken wollte, rieb seinen Rücken an Akazien und Zedern, aß zum Frühstück Beeren, zum Abendessen Hasen, die keine Gente waren (hier, weit draußen, gab es das noch), und streckte sich mitunter stundenlang. Allmählich kannte er seine Muskulatur, seinen Knochenbau, seine Haut und seinen Pelz gut genug, um sich wieder so darin wohlzufühlen wie seit Welpentagen nicht mehr.

In einer Höhle im Präferenzgebirge begegnete er Rauhhautfledermäusen, die im Dunkeln Bauteile zusammenfügten. Es ging da um die Fertigung eines neuen großen Fortschrittswunders, das Cyrus Iemelian Adrian Vinicius Golden allen schenken wollte, die unter seinem Schutz standen.

Die leitende Technikerin war berühmt, Dmitri kannte sie aus Pherinfoplexen, sie nannte sich Izquierda. Er hatte nicht gewußt, daß die an so gut verstecktem Ort arbeitete. Natürlich besaß sie Wohnungen in allen drei Städten, aber von der Höhle hier hatte man noch nie gehört. Izquierda erläuterte dem Wolf, nachdem sie seine Kennung eingelesen hatte, was ihr Projekt bedeutete:»Unser Lenker, du kennst ihn ja. Er traut der Handwerkelei nicht mehr, er will jetzt Nägel mit Köpfen.«