«Sie mögen mich nicht…«, setzte Ryu erneut an, da nahm die Komponistin eine Stimmgabel von einem Stapel alter SPIEGEL-Ausgaben, schlug sie gegen die Lehne ihres Stuhles, hielt sie in die Höhe und sagte:»Stimmt«, dann warf sie das Gerät achtlos in den hinteren Teil des Raums, zu irgendwelchem anderen Müll.
Schön, bitte, also Stufe Zwei: Zeit für Ryus hervorragendes Gedächtnis, das ihm erlaubte, auch kürzestfristige Crash-Kurse über potentielle Förderkinder sofort bei sich zu behalten und den Lehrinhalt selbst in härtesten Verhandlungssituationen adäquat parlando wiederzugeben.
«Er hat mir gesagt, daß Sie von allen, die heute arbeiten, vielleicht die einzige Person sind, bei der die zentrale Lektion von Iannis Xenakis Früchte getragen hat…«
Cordula Späth setzte sich auf ihren gepolsterten Bürostuhl, kippelte nach hinten, verschränkte, an der Zigarre zutzelnd, die starken Arme hinterm Kopf und sagte:»Mmmmhhhboah die zentrale Lektion von Iannis Xenakis, hört hört, und was is das nu für eine?«
«Musik ist keine Sprache.«
Ryu hatte das nachlesen müssen und wußte nicht unbedingt, was es bedeuten sollte, aber es schien sich gelohnt zu haben, den Satz zu zitieren, denn jetzt erkannte er das erste Mal einen Funken von Interesse in ihrem Gesicht.
Sie senkte die Lider, ein wenig nur, als wäre sie auf eine stark durchgeistigte Parodie des sogenannten Schlafzimmerblicks aus:»Das genaue Zitat lautet: ›Musik ist keine Sprache. Mit seinen komplexen Formen, Furchen und eingravierten Mustern auf der Oberfläche und im Innern gleicht jedes Musikstück einem Felsblock, den Menschen auf unzählige Arten entziffern können, ohne je die richtige oder beste Antwort zu finden. Kraft dieser vielfältigen Auslegungen evoziert Musik vergleichbar einem katalysierenden Kristall alle möglichen Phantasmagorien.‹ Hübsch, ne?«
Ryu kniff die Augen zusammen: Jetzt wollte sie ihn testen. Reinlegen. Da half nur Stufe Drei, hemmungslose, businessgestählte Aufrichtigkeit:»Ich weiß nicht, ob's hübsch ist. Ich versteh's nicht, und es beschäftigt mich auch… kaum.«
«Good for you«, billigte die Komponistin die Feststellung und saugte Qualm in sich hinein. Ryu räusperte sich und setzte neu an:»Aber was ich Ihnen sagen kann, ist, was mein Auftraggeber Ihnen ausrichten läßt, unter Berufung auf, wie er mir sagt, Ihren Lieblingsphilosophen: Wenn Musik keine Sprache ist, was ist sie dann? Denn… ähm…«, er mußte sich kurz besinnen, dann hatte er's:»…denn sprachähnliche Attribute hat sie ja. Man meint ja doch, daß bestimmte Elemente von Musik für irgendwelche anderen Dinge stehen können, zum Beispiel Gemütsregungen.«
«Go on, es wird allmählich witziger«, sagte Cordula Späth. Jetzt hatte er sie. Auf diesem neuen Spielfeld, dem des, nun ja, beiderseitigen Interessiertseins nämlich, wußte er sich zu bewegen.»Gut, also mein Auftraggeber sagt: Vielleicht ist die Nichtsprachlichkeit von Musik eine Parasprachlichkeit, wie etwa bei der Mathematik — die ist ja nicht nur eine Sprache, sondern auch der Gegenstandsbereich einer Sprache — die Zahl ›1‹ ist ein mathematischer Ausdruck, dem außerhalb der Mathematik gar kein ähm… ontischer Status zukommt, es gibt höchstens einen Apfel oder einen Krieg oder einen Menschen, aber keine Eins.«
«Mathematik…«, sie schien die Idee zu kosten wie ein Zungenspitzchen LSD.
«Ja, oder vielleicht noch treffender — meint mein Auftraggeber, unter Berufung auf denselben Philosophen…«
«Heißt Bobby Brandom und sieht aus wie der Nikolaus. Sein style ist neu und macht mir Spaß, er nennt das Inferentialismus.«
«Okay, also, noch treffender: Vielleicht ist sie — die Musik — so etwas Ähnliches wie das Vokabular der Logik. Logik ist ja weniger eine Objektsprache, also eine Sprache, die Dinge und Sachverhalte ausdrückt, als vielmehr ein Instrument zum Explitzitmachen der… der fundamentalen semantischen und pragmatischen Strukturen einer diskursiven Praxis. Und analog dazu könnte dann die Musik die Funktion haben, die fundamentalen Strukturen des raumzeitlichen Erlebens explizit zu machen. Da sie sich ja in der Zeit abspielt, darauf angewiesen ist wie kaum eine andere Kunst, und andererseits sehr leicht die Illusion von Räumen erzeugen kann. Musik wäre dann die eigentliche Dimensionskunst, und wenn man das, was sie kann, dazu benutzen würde, eine neue…«
«Er will, daß ich Musik schreibe, mit der man durch die Zeit reisen oder durch den Raum springen kann, damit…«
«Ehrlich gesagt, er will, wenn ich ihn zitieren darf, mit Ihrer Hilfe ein defensives Waffensystem bauen. In Form eines Liebesweihefestspiels. Ein Kunstwerk für Flucht und Ausweichen, um damit ein offensives Waffensystem zu ergänzen, das er schon besitzt und das… biochemischer Natur ist.«
«Ein offensives…«, sie lächelte, nickte, als wolle sie gleich damit beginnen, sich Notizen zu machen, als habe sie den Auftrag bereits angenommen, als gebe es keinen Weg zurück zu Anstand und Unschuld mehr.
«Viel mehr kann ich Ihnen nicht sagen, außer, daß er Sie für eine ausreichend allseitig… kundige… Person hält, um davon auszugehen, ich könnte Sie damit beeindrucken, wenn ich Ihnen mitteilte, daß das offensive Waffensystem als eine seiner wichtigsten äh… Komponenten ein… intelligentes Mutagen aufweist, welches das phylogenetische Gedächtnis anzapfen kann, um Phänotypen von… Lebewesen…«
«Wie heißt der Onkel, Doktor Moreau?«
Sie stand auf, ging zu einem Regal, nahm ein Filofaxmäppchen raus, warf es Ryu in den Schoß:»Da schreibst du jetzt die Summe rein. Und eine Telefonnummer — gib mir keine Visitenkarte, ich schmeiß den Mist eh gleich weg. Dann denk ich drüber nach. Don't call us, we'll call you.«
«Gut…«, und Stufe Vier, das Zuckerstückchen,»… aber eins muß ich noch ergänzen. Er bietet Ihnen einen Bonus, der sich nicht in Geldmitteln ausdrücken läßt. «Ryu war froh, daß er den Laden bald würde verlassen dürfen, er hatte seinen Kugelschreiber gezückt und begann, während er noch redete, schon aufzuschreiben, was sie wissen mußte.
«Toll, ideelle Werte. Ich schlaf gleich ein, falls…«
Stufe Fünf: Dem Gegenüber das Wort abschneiden, wenn anders Autorität nicht herzustellen ist:»Unsterblichkeit. Er bietet Ihnen die physische Unsterblichkeit an, Frau Späth.«
5. Der Löwe, drei Gleichnisse
«Nein, eine einzelne Person darf nicht entscheiden. Entscheidungen einer einzelnen Person sind immer oder fast immer einseitige Entscheidungen. In jedem Kollegium, in jedem Kollektiv gibt es Menschen, mit deren Meinung man rechnen muß. In jedem Kollegium, in jedem Kollektiv gibt es Menschen, die auch falsche Meinungen zum Ausdruck bringen können. Aufgrund der Erfahrungen von drei Revolutionen wissen wir, daß unter hundert Entscheidungen, die von einzelnen Personen getroffen und nicht kollektiv überprüft und berichtigt wurden, annähernd neunzig Entscheidungen einseitig sind.«
Josef Stalin
«If a group achieves enough togetherness to exercise agency as a group, over a period of time, perhaps we should, on just those grounds, conceive it as a living individual whose life extends over that period of time. I claimed that the continued existence of a person requires the continuation of an individual life. I never restricted the required individual life to the life of an individual human being. There was always a need to leave room for the possibility that, say, Martians or dolphins might be persons in the Lockean sense. So one line I could take, in defending my so-called ›animalism‹ against Rovane's appeal to group persons, would be to stress that the idea that does the work, in the position that is only awkwardly so called, is not the idea of an individual constituted as such by mere biology but the idea of a kind of continuity recognizable as the continuation of an individual life.«