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«Ich glaube«, riskierte Dmitri eine eigene Meinung,»daß ihn der Tag beschäftigt, an dem er einmal nicht mehr für uns wird denken können.«

«Institutionen schaffen, die leisten können, was der Löwe leistet — das ist sein Ziel, und das wird heikel«, bestätigte Izquierda.

«Was ist mit der Tochter, Lasara?«fragte der Wolf.

Die Fledermaus pfiff zwischen den spitzen Zähnchen:»Was soll man sagen? Dynastisches, ich glaube, er mag's rein gar nicht. Außerdem liebt er sie so, seine Tochter, daß er ihr, selbst wenn das Erbrecht gilt, die Entscheidungsfreiheit lassen möchte. Vielleicht will sie ja gar nicht regieren? Keine tausend Jahre alt werden, indem sie ganze Zeitalter verschläft, hoch droben«, die Fledermaus verdrehte beide Augen, die hatten hier, im Kunstlicht, die Farbe von grünem Tee,»hinterm Sandelholz. Wie dem auch immer sei: Er wird sich wohl selbst dann, wenn er vorerst nicht abtritt, auf die Beratungen der neuen kalkulierenden Gewalt stützen, sobald sie fertig ist.«

Die neue kalkulierende Gewalt: Dmitri erkannte, fasziniert und etwas beunruhigt, wie im Dunkeln Komponenten glänzten; er dachte an geleckten Mondstein, schwarzen Zucker. Was sie hier bauen, ahnte er, wird denken können.»Wann, meint ihr, werden…«

«Hat keine Eile. Sie werden ineinandergesteckt, dann kommen sie auf Platinen, dann wird man Becken graben und füllen, mit den nötigen Medien, dann wird man die Platinen hineintauchen, dann wird das, was dabei herauskommt, wenn wir alles richtig gemacht haben, anfangen zu leben, dann ahnt es, was und wer es ist… bis zum ersten Augenaufschlag, bis man von Bewußtsein sprechen kann, werden noch zwanzig Jahre, eventuell dreißig ins Land gehn. Und bis dann die Setzlinge auf kompakte Kopien von… aber nein, davon sprechen wir lieber nicht.«

Davon darf ich nicht sprechen, sagte der Tonfall. Die Stellung der feinsten Härchen in Izquierdas Ohren verrieten dem Wolf, daß die Ingenieurin wußte, wie weit, vielleicht zu weit, sie sich bereits vorgewagt hatte. Die Information, die sie eben so beiläufig verraten hatte, war eigentlich nicht für vorübergehend dienstbefreite Durchreisende gedacht.

«Ich danke dir für deine… Erläuterungen«, sagte Dmitri und verließ, den Schwanz zwischen den Hinterbeinen, damit die Nachtarbeiterinnen wußten, daß er sie achtete (und auch ein wenig fürchtete), die kalte Höhle.

3. Einen Mann töten

Noch höher, an den Rändern der waldumstandenen Schluchten, wurde Dmitri Stepanowitsch von der Stille überrascht, die bei längst vergessenen Menschen» Wolfsstunde «geheißen hatte: Unvorstellbar, daß noch einmal die Morgensonne scheinen würde, das Felsgestein kälter als Eis und jedes Geräusch, auch das leiseste, eine Drohung von Teufeln, die so klein waren, daß man sie nicht sehen konnte.

Hier erst verstand der Wolf, daß seine lang zurückliegende Trennung vom Rudel ihn nicht nur verändert, sondern wirklich verwandelt hatte: Ich bin allein.

Das ist etwas, was niemand in meiner Familie je war.

Und wenn sie im Stollen Maschinen bauen, die alle Gente ganz anders verbinden sollen als bisher, weil der Löwe nicht will, daß welche allein sind, so ändert das nichts: Ich werde fortan immer allein sein.

Eine sehr ruhige innere Stimme fand, das sei gut.

«Ist es so?«sagte er halblaut in die Stille, ohne zu wissen, ob er der inneren Stimme damit eigentlich wirklich widersprochen hatte oder nicht.

Als es dämmerte, begegnete Dmitri einem verrücktgewordenen Überlebenden.

Der Mann schrie fürchterlich und richtete ein Gewehr auf den Wolf. Die Langeweile lebt, dachte Dmitri grimmig und sprang den Irren an, weil der ihm keine Wahl ließ. Noch ehe der Mensch einen Schuß abgeben konnte, hatte Dmitri ihm beide Hände abgebissen. Der Mensch brüllte, als lachte er, fuchtelte mit den sprudelnden Stümpfen, dann stillten Stoffe, die in Dmitris Speichel lebten, sowohl die Blutung wie den Schmerz. Der Wolf saß auf dem Brustkorb des Mannes, um ihm Gelegenheit zu geben, in Dmitris Augen die höhere Vernunft zu erkennen, die Leute wie er immer noch nicht wahrhaben wollten. Zu ihrem eigenen Schutz vielleicht, dachte der Wolf: Sie müssen das, was wir sind, ärger fürchten als den Tod, sonst verstehen sie bald nicht mehr, warum so viele von ihnen gestorben sind, im Krieg um die Befreiung.

Der Mann war furchtbar dreckig, hatte einen kalkweißen Bart mit struppigen Pfefferfäden drin und etwas altem Eigelb. Jetzt hörte er auf zu weinen und zu schreien, fing aber dafür an, wirklich zu lachen, in einem Tonfall, der verriet, daß er sich für etwas ganz Besonderes, unwiederholbar Wahnsinniges hielt.

Seine Gesichtsmuskeln zuckten, es sah ganz heillos aus. Jetzt brabbelte er Worte, die an sämtlichen Bedeutungen abrutschten, die sie hätten haben können. Seine Atmung wurde flach, er schnappte nach Luft und erwischte auch die nicht. Wie er ihn sabbern sah und mit den Augen rollen, wie er spürte, daß der Besiegte sich aufbäumen wollte, wie sie das immer taten, dachte Dmitri: Wir hätten sie einfach entwaffnen sollen und auf entlegene Inseln verschiffen; da hätten sie sich gegenseitig aufgefressen.

Es dauerte noch lang.

Am Ende begann Dmitri, sprechenden Dampf zu schnauben, pherinfonierte, primitive Bilderspiele mit arithmetischen Reihen, auf das primitive Zentralnervensystem des Menschen zugeschnitten: beruhigende Sinnestäuschungen.

Das endlich brachte den von verebbender Raserei Geschüttelten zur Ruhe.

Der Mann sackte nach hinten, bis er wie ein Toter auf dem Rücken lag. Atmete aber noch ein. Aus. Dann fing er leise an zu sprechen, verständlicher jetzt:»Heult… heult… o ihr seid… all… von Stein… Hätt' ich eu'r… Aug' und… Zunge nur, mein… Jammer sprengte… des… Himmels…«

Dmitri hatte genug gehört.

Er biß dem armen Idioten die Kehle durch und spuckte, was er zwischen seinen Zähnen aus dem Menschenhals herausgerissen hatte, angewidert in den Schnee.

Die schwarze Galle vergiftete seinen Speichel; seine Flanken pulsten, so zornig war er, weil er sich mit den brechenden Augen des Mannes sah: ein Ungeheuer.

Was denn?

Sie fressen Dreck und halten sich verborgen an den unzugänglichsten Orten, sie graben sich ein wie die spritzenden Würmer und denken immer noch, wir Gente wären das Abscheuliche, die Niedrigkeit, und wüßten nichts von Shakespeare, von Symphonien, von der milanesischen Kathedrale, von den pindarischen Oden, dem ganzen alten Geraffel, und wenn sie zugeben müssen, daß wir davon doch wissen, dann reden sie sich ein, wir wüßten's zwar, aber verstünden's nicht. Die Gente werden das nie ändern.

Diese Leute wollen nicht mit uns leben; sie bilden sich ein, sie dürften entscheiden, wer die Erde wie bewohnt.

Blubbern und Gurgeln aus dem Rachen des Sterbenden, dann nichts mehr. Auf diesem Nichts blieb Dmitri Stepanowitsch ein Weilchen hocken und dachte an die Stadt, in die er zurückwollte.

Der letzte Blick des Menschen sah auf Dmitris Schnauze.

Ja: Das ist alles, was er sieht, das bin ich, ein Biest, das in der Dunkelheit hockt und sich beschmutzt, wenn er das rote Licht seines zerstörten Verstandes auf es richtet.

Als der Mann, der ihn hatte erschießen wollen, nicht mehr atmete, ging Dmitri fort, auf einen Felsvorsprung, und blickte hinab in einen zusammenfließenden Nebelsee zwischen den spitzen finsteren Bäumen.

Überrascht begriff er, daß er nicht mehr an den Löwen glaubte.

Er liebt uns? Er will, daß wir glücklich sind und bei ihm auf ewig wohnen? Er hat einen Plan? Ich denke, nichts davon ist wahr.

Und doch liebe ich ihn, weil er sich das alles für uns einredet.

Dmitri wußte nun, daß er sich nicht länger genötigt fühlte, dem Löwen um irgendeiner Wahrheit willen zu dienen, die größer war als Menschen, Gente oder die neuen Götter im Regenwald.